Somniferus
nachdem wir uns
höflich und in wohlgesetzten Worten vorgestellt hatten.
Vielleicht glaubte er, dass alle Wissenschaftler etwas verlottert
aussehen.
Seine Frau begrüßte uns ebenfalls. Sie war eine
mondäne Erscheinung und mit vielleicht fünfundvierzig
Jahren ein wenig älter als ihr Mann. Ich fand sie faszinierend.
Sie war recht üppig und trug eine weite Bluse lose über dem
Rock. Der Einblick, den diese Bluse erlaubte, war atemberaubend.
Frau Lauer bot uns an, etwas Gebäck und Kaffee zu bringen,
was wir dankbar annahmen, und dann führte uns Herr Lauer in die
Bibliothek. Er schloss eine alte, weiß lackierte Tür auf,
die in den Angeln gehörig knarrte, und wies mit einer weiten
Armbewegung auf die unzähligen Bücher, die uns aus den
Regalen und Vitrinen begrüßten. Wie vertraut war mir
inzwischen ein solcher Anblick: von der Bibliothek meines Onkels, von
jener des Friedrich Adolphi. Die verborgene Eifel: das Eldorado der
Bibliophilen. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Landstrich
solche Schätze beherbergt.
»Das hier war das Allerheiligste meines Vaters«,
erklärte Ernst Lauer überflüssigerweise. »Ich
betrete diesen Raum eigentlich nie.«
So roch er auch. Anscheinend wurde hier weder geheizt noch
übermäßig gelüftet. Ein Geruch von Moder und
Schimmel lag in der Luft. Und es war kalt hier; die Kälte des
Winters hatte sich in den unzähligen Büchern eingenistet
und war noch nicht wieder vertrieben worden.
»Und Sie suchen ein bestimmtes Buch?«
»Eine Ausonius-Handschrift«, sagte Lisa schnell.
»Es gibt einen Katalog für die Bücher. Er steht da
drüben.« Er wies mit der Hand auf einen kleinen
Karteikartenschrank, wie man sie auch in jeder
Universitätsbibliothek findet. »Es gibt irgendein System,
aber fragen Sie mich nicht, welches.«
Während Lisa zu dem Katalog ging und das erste Schubfach
aufzog, fragte ich: »Ihr Vater ist kurz nach dem Erwerb dieser
Handschrift verstorben?«
»Ja. Wir mussten noch das viele Geld für den Kaufpreis
auftreiben«, antwortete Lauer. Und dann sprach er die Worte aus,
vor denen ich mich bereits die ganze Zeit gefürchtet hatte:
»Er hat sich erhängt. Dort am Fensterkreuz.«
Also war es doch ein Selbstmord gewesen – wie ich vermutet
hatte. Ich musste schlucken.
»Warum?« wollte ich wissen. Es war mir, als kenne ich
die Antwort bereits.
Aber nein: »Weil er Schulden hatte. Weil er sich seine teuren
Bücher eigentlich nicht mehr leisten konnte. Er war nur ein
kleiner Lehrer und das ist ein Handwerk, das keinen goldenen Boden
hat.« Das war bei Lauer junior offenbar anders. »Das Haus
hier hatte mehr Hypotheken als Fenster. Aber jetzt ist alles wieder
schuldenfrei.«
Er streckte sich. Es war unbestreitbar eine Leistung gewesen. Ich
dachte nach. Also hatte Reinhardt Lauers Tod nichts mit dieser
Handschrift und dem schrecklichen Gott Somniferus zu tun? Oder gab es
da einen Zusammenhang, den sein Sohn nicht erkannte? Es würde
ein ewiges Geheimnis bleiben. Aber vielleicht geheimnisste ich in
diese Sache ja auch einfach nur zuviel hinein.
19. Kapitel
Anhand des Kataloges fanden wir die Handschrift schnell. Sie stand
in einer Vitrine, in der sich ausschließlich mittelalterliche
und frühneuzeitliche Manuskripte befanden. Ich griff den
schmalen Folianten heraus, der vermutlich im neunzehnten Jahrhundert
einen neuen Maroquinledereinband erhalten hatte, und schlug ihn
auf.
Leider konnte ich nicht ein einziges Wort entziffern; lediglich
die wunderbaren, goldgehöhten Initialen gaben meiner Fantasie
konkrete Nahrung. Bereits die erste Initiale des gesamten Textes
– ein T – fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich nahm das Buch
mit zu den beiden Sesseln, die unter dem Fenster standen; Lisa hatte
sich bereits gesetzt und Lauer stand in der Nähe der Tür
und beäugte uns argwöhnisch. Ich setzte mich ebenfalls und
hielt das Buch so, dass wir beide hineinschauen konnten.
»Sieh dir das an«, sagte ich und deutete auf die
Initiale.
Lisa pfiff durch die Zähne. »Das haben wir doch schon
einmal gesehen…«
Auf dem Querbalken des T, das mit bizarren Ranken geschmückt
war, stand eine Gestalt, die unverkennbar war: Sie hatte
säulenartige Beine und einen ungeschlachten Rumpf sowie
schlangenartige Arme und ihr Kopf war in braunen Wolken verborgen. Da
sich in der Darstellung nichts als Maßstab eignete, konnten wir
nicht abschätzen, wie groß sie sein mochte, aber sie glich
eindeutig der Miniatur in der Abbildung des
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