Somniferus
ich versagen könnte.
Die kleinen Messingschildchen auf den Türen im ersten Stock
waren schon lange nicht mehr geputzt worden. Wir fanden unser Zimmer
schnell; es war das erste rechts neben der Treppe und trug die Nummer
11. Ich schloss auf. Die Tür öffnete sich in vollkommene
Finsternis.
Und aus dem Zimmer quoll derselbe Modergeruch, den ich auch
draußen auf der Straße wahrgenommen hatte.
Ich zögerte, über die Schwelle zu treten.
»Sollen wir deiner Meinung nach vielleicht hier im Flur
übernachten?«, fragte Lisa. Es hatte sicherlich ironisch
klingen sollen, aber ich spürte das Vibrieren der Angst in ihrer
Stimme. Also hatte sie es auch gerochen – jetzt und vorhin.
Ich tastete vom Flur aus an der Innenwand des Zimmers nach dem
Lichtschalter. Endlich hatte ich ihn gefunden; die Deckenlampe
flammte auf. Was wir sahen, war traurig, aber in gewisser Weise auch
beruhigend: ein Bett mit Eisengestell, ein Schrank aus den
Fünfzigern, dessen Türen sich verzogen hatten und offen
standen, ein Cocktailsessel, dessen Bezug einmal pinkfarben gewesen
war, und eine angelehnte Tür, die zum Bad zu führen schien.
Ich trat ein; Lisa folgte mir sofort. Sie machte einen raschen
Schritt an mir vorbei, öffnete die Badezimmertür ganz weit,
schaltete auch dort das Licht ein, sah sich um, kam zufrieden wieder
hervor und sagte: »Ich glaube, hier lässt es sich eine
Nacht lang aushalten. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zuerst
bade?«
Ich hatte nichts dagegen. Sie schloss die Tür sorgfältig
hinter sich. Ich zog meine Windjacke aus, setzte mich auf das
quietschende, durchhängende Bett und wartete.
Mir wurde die Zeit lang. Ich stellte mir vor, wie Lisa sich
nebenan auszog, wie sie in die Wanne stieg. Ich hörte das
Plätschern des einlaufenden Wassers, hörte Lisas Singen,
stellte mir vor, wie sie ihren Körper einseifte…
Als Lisa nur mit einem großen, erstaunlich sauberen Badetuch
bekleidet hereinkam, sagte sie: »Jetzt ist das Bad frei. Wenn du
willst…«
Natürlich wollte ich. Ich ging an ihr vorüber, wobei ich
ihr möglichst den Rücken zudrehte, und verschloss die
Badezimmertür hinter mir. Meine Anziehsachen faltete ich
zusammen und legte sie – Lisas Beispiel folgend – neben
ihre Sachen auf eine Ablage. Das Baden war wunderbar. Das Wasser
spülte all meine Ängste und Sorgen fort, und als ich
schließlich aus der Wanne kletterte, fühlte ich mich wie
ein neuer Mensch.
Leider war kein zweites Badetuch da.
Ich trocknete mich mit einem sehr kleinen Handtuch ab,
öffnete zaghaft die Tür und linste um die Ecke. Das Licht
war noch an. Lisa lag bereits im Bett, nur noch ihr Kopf schaute
unter der Decke hervor. Sie hatte sich mit dem Rücken zur
Badezimmertür gedreht, sodass sie mir die Möglichkeit gab,
von ihr ungesehen unter die Decke zu kriechen. Hatte sie dies rein
zufällig getan oder war es ihr keineswegs entgangen, dass im
Badezimmer nur ein großes Handtuch war?
Das Badetuch. Ich sah es über dem Eisengitter am
Fußende des Bettes hängen. Als habe sie es dort
demonstrativ hingehängt. Oder war auch das nur Zufall?
Ein kurzer Schwindelanfall befiel mich, als ich daran dachte, wie
sie jetzt dort unter der Decke liegen musste, hing doch ihr einzig
verbliebenes Kleidungsstück über dem Bettrand.
Dann gab ich mir einen Ruck und huschte – nackt, wie ich war
– rasch ebenfalls unter die Laken. Ich mummelte mich in mein
Bettzeug ein und wartete, was nun geschehen mochte. Ich wartete
darauf, dass Lisa die Initiative ergriff.
Und nach mehreren schweigsamen Minuten, in denen sich keiner von
uns beiden bewegt hatte, war es Lisas Hand, die den Anfang
machte.
* * *
Ein blauer Frühlingshimmel und der Glanz der Sonne weckten
uns. Ich küsste Lisa, dann zogen wir uns an. Alles hatte sich
verändert: das Zimmer, wir selbst, die Welt draußen.
Nichts mehr war von der beängstigenden Dunkelheit
übriggeblieben, die uns in der vergangenen Nacht in diese
schäbige Pension getrieben hatte. Wir verließen das
Zimmer, stiegen nach unten, legten den Schlüssel auf den Tresen
der unbesetzten Rezeption und traten nach draußen in einen
champagnerprickelnden Morgen. Lisa hängte sich bei mir unter und
drückte sich an mich.
Ich küsste sie auf die Stirn. »Und jetzt lade ich dich
zum Frühstück ein«, sagte ich.
Wir gingen ins Café Bley, das im ältesten Haus
Triers, dem so genannten Dreikönigenhaus in der
Fußgängerzone, untergebracht ist und genehmigten uns mit
den Resten meines Geldes ein
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