Sonea - Die Heilerin: Roman
zu erfahren, wie seine erste Liebe, Beriya, ihm das Herz gebrochen hatte; geringschätzig angesichts der Erwartungen, dass er etwas Heldenhaftes tun würde wie sein Vater; und verächtlich, als sie auf seine Zuneigung zu Tyvara stieß …
Ein Geräusch durchbrach Kalias Konzentration. Lorkins Ohren sagten ihm, dass es laut war, aber da seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen Geist gerichtet war, spürte er es nicht. Dann kehrte sein Bewusstsein ruckartig in die äußere Welt zurück. Ihm schwirrte der Kopf.
»Was?«, blaffte Kalia.
»Man ist dir gefolgt. Wir haben die Verfolger abgelenkt, aber wir haben nicht lange Zeit, bis sie es bemerken.«
Stille trat ein. Lorkin konnte Kalia atmen hören.
»Ist es vollbracht?«, fragte eine der Wächterinnen.
»Vielleicht«, erwiderte Kalia in einem spekulativen Tonfall, bei dem ihn ein kalter Schauer überlief. »Zieht ihn hoch. Ich kenne das perfekte Versteck für ihn.«
Lorkin, dem noch immer der Kopf schwirrte, wenn auch eher aufgrund des Mangels an Nahrung und Wasser, spürte, wie jemand ihn auf die Füße riss und dann in einen engen Gang schob.
17 Gedankenspiele
D er Schnee, der in der Nacht zuvor gefallen war, türmte sich in Verwehungen zu beiden Seiten der Straße auf. Er hielt sich dort im Schatten der Bäume, wohin das Sonnenlicht noch nicht gedrungen war. Sonea beugte sich dichter ans Fenster heran, um zum Ausguck hinaufzuschauen, und fragte sich, ob das Gebäude wohl kälter war als die Häuser in der Stadt. Etwas zog ihren Blick zu der dritten Reihe von Fenstern.
Schaut da jemand heraus? Sie runzelte die Stirn, und als sie genauer hinsah, erkannte sie in einem der Fenster das Gesicht einer jungen Frau. Lilia.
Das Mädchen beobachtete die Kutsche. Es schien, als träfen sich ihre Blicke, obwohl Sonea zu weit entfernt war, um zu erkennen, ob sie es sich nur einbildete oder nicht. Dann folgte die Kutsche einer Biegung der Straße, und sie verloren einander aus den Augen.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit, schoss es Sonea durch den Kopf. Aber zumindest lebt sie und ist in Sicherheit.
Ihre Gedanken wanderten zu Naki. Das Mädchen war seit einer Woche verschwunden. Ihre Diener hatten ihre Abwesenheit erst gemeldet, als Naki länger als gewöhnlich ausgeblieben war. Anscheinend war sie gelegentlich ohne Erklärung für einige Tage verschwunden. Sämtliche Diener des Haushalts waren von Magiern befragt worden, und man war ihren Vermutungen, was den möglichen Aufenthaltsort des Mädchens betraf, nachgegangen, aber diese Vermutungen hatten sich bei den Nachforschungen stets als falsch erwiesen. Die Gilde hatte sich mit Verwandten in Verbindung gesetzt, aber niemand hatte von dem Mädchen gehört.
Naki hatte in jüngster Zeit keine Besuche empfangen, aber jede Menge Briefe bekommen. Eine Dienerin hatte erzählt, dass Naki, nachdem sie die Briefe erhalten hatte, keinen glücklichen Eindruck gemacht und die Briefe unverzüglich mit Magie verbrannt habe.
Aber als Kallen erklärte, dass Nakis Kräfte blockiert worden seien, so dass sie keine Magie hätte benutzen können, hat die Dienerin ein nachdenkliches Gesicht gemacht. Sie sagte, sie habe Naki in jüngster Zeit einen Brief ins Feuer werfen sehen, jedoch gedacht, sie habe es aus Wut getan. Es ist ihr nicht in den Sinn gekommen, dass es daran lag, dass Naki keine Magie mehr benutzen konnte.
Kallen hatte gefragt, ob noch weitere Briefe gekommen seien, seit Naki das Haus verlassen hatte. Die Dienerin hatte darüber nachgedacht und dann den Kopf geschüttelt. Kluger Kallen, ging es Sonea durch den Kopf. Ich habe daran gedacht zu fragen, wann die ersten Briefe kamen, nicht ob sie irgendwann ausgeblieben sind.
Die Kutsche kam am Fuß des Turms zum Stehen. Sonea stieg aus, und kalte Luft umfing sie. Die Wachen, die rund um den Turm postiert waren, waren alle dick eingemummt. Sie widerstand der Gewohnheit, einen Schild um sich herum zu schaffen und die Luft darin zu erwärmen. Die eisige Luft war erfrischend, und sie hatte es immer geliebt zu sehen, wie ihr Atem einen weißen Nebel vor ihrem Gesicht bildete. Als Kind war ihr das magisch erschienen, obwohl es im Allgemeinen bedeutete, dass sie vor Kälte zitterte.
Eine Erinnerung blitzte in ihren Gedanken auf: Sie war in einen alten Mantel gewickelt gewesen, und ihre Füße hatten geschmerzt, als die Kälte ihre dünn besohlten Schuhe durchdrungen hatte. Dann wurde die Tür des Ausgucks geöffnet, und die Erinnerung verblasste. Der Wachmann verneigte sich und
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