Sonnenfall - McAuley, P: Sonnenfall - The Gardens of Sun
lateinischen Ursprungs gab, war diese Emotion auf jeden Fall
universell. Sri kannte sie als das Gefühl, das sie nach einer erfolgreichen Präsentation vor anderen Fachleuten hatte. Anerkennung, Zugehörigkeit, Wertschätzung.
Die Evolutionspsychologie lieferte eine treffende Erklärung: Amae hatte sich bei Hominiden durchgesetzt, die auf den afrikanischen Ebenen ums Überleben kämpften, weil es Teil des sozialen Haftstoffs war, der die Individuen in einer Sippe zusammenhielt. Die Sippe wurde dadurch stärker, weniger anfällig dafür, sich zu zerstreiten, und eher bereit zu Kooperation und schneller Einigung. Doch Sri war nicht an Spekulationen interessiert, egal wie glaubhaft sie waren. Sie war an Nützlichkeit interessiert. Und sie war vor allem an einem Beweis dafür interessiert, dass amae die Schwelle für die Auslöser von Grundemotionen anheben konnte, indem Emotionen unterdrückt wurden, die zwar die Überlebenschancen des Individuums erhöhten, aber potenziell gefährdend für den Gruppenzusammenhalt waren. Wenn sie eine Möglichkeit finden könnte, amae auszulösen oder zu verstärken, könnte sie vielleicht Berry dazu bringen, sich als Teil eines Ganzen zu betrachten, sich gemocht, umsorgt und anerkannt zu fühlen. Dann würden vielleicht auch seine Wutausbrüche und seine schlechte Laune nachlassen. Er wäre wieder in der Lage, sie zu lieben.
Die Außenweltler hatten viel über amae geforscht, es war ein wichtiger Teil ihrer diversen Versuche, wissenschaftliche Utopien zu erschaffen. Und Sri hatte mit einer der führenden Forscherinnen, Umm Said, im Gefangenenlager der Neuen Stadt mehrere interessante Gespräche darüber geführt.
Die Neue Stadt, die von der brasilianischen Besatzungsmacht zwanzig Kilometer nördlich von Paris, Dione, errichtet worden war, war der lebende Beweis für die Vorteile von Kooperation und gemeinschaftlichen Handelns, die
amae beförderte und belohnte. Obwohl das schmale Zelt bis zum Rand mit hoffnungslos überfüllten und schlecht konstruierten Wohnblocks vollgebaut war, war es beileibe kein Slum. Überall blühten kleine Gärten. An den Gebäuden ragten seitlich Plattformen heraus, und Fasernetze zogen sich über die restlichen Wände und verwandelten sie in zweckmäßige Konstruktionen mit Vorsprüngen und Terrassen für das Heranziehen von Nutzpflanzen und Kräutern. Spielplätze, kleine Cafés und andere Treffpunkte waren auf den Dächern entstanden, die durch Rutschen und Seilbahnen miteinander verbunden waren. Wie mit den öffentlichen Räumen stand es auch mit den privaten. Obwohl Umm Said mit ihrem Partner und ihren vier Kindern in einer kleinen Einzimmerwohnung lebte, war alles sauber, hell und sehr gepflegt. Ihre wenigen Besitztümer waren in ein paar Körben verstaut oder hingen an Haken. Bambusmatten bedeckten den Fußboden, und Kissen lagen um einen niedrigen Tisch herum, das einzige Möbelstück – die Familie schlief auf dünnen Matratzen, die sie jeden Abend ausrollten.
Umm Said war eine große, elegante, dunkelhäutige Frau mit einem scharfen Verstand, und wie alle Außenweltler war sie offen und unvoreingenommen, wenn es darum ging, ihre Ideen mitzuteilen. Sie und Sri tranken grünen Tee, knabberten Sushi aus Algen, Reis und fermentierte Bohnen oder kleine Teigtaschen und Frühlingsrollen, die auf einer winzigen Kochplatte frittiert worden waren, und verbrachten Stunden damit, höhere emotionale Zustände zu diskutieren.
Umm Said vertrat die Ansicht, dass die Neigung der Außenweltler zu einem Verhalten, welches das Empfinden von amae beförderte, von allen möglichen Umgebungsreizen bestimmt war, von der Stadtplanung bis zu kleinen Veränderungen
im gesellschaftlichen Miteinander. Außerdem wurde es durch positives Feedback verstärkt. Individuen, deren Verhalten das amae bei anderen verstärkte, waren selbst empfänglicher für Auslösereize, die ihr eigenes amae vergrößerten. Die Außenweltler besaßen eine kulturell spezifische Emotion, Wanderjahr genannt, die in ihren Zehner – und Zwanzigerjahren am stärksten ausgeprägt war – eine sehnsüchtige Rastlosigkeit, die sie von zu Hause forttrieb und von Mond zu Mond reisen ließ. Während sie sich mit Aushilfsjobs über Wasser hielten, erkundeten sie ihre eigenen Interessen, machten Erfahrungen mit allen möglichen Facetten der Außenweltlerkultur und lernten, mit den unterschiedlichsten Menschen klarzukommen. Und weil sie dadurch Unvoreingenommenheit und Toleranz lernten und sie nicht mehr das
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