Sonnenfall - McAuley, P: Sonnenfall - The Gardens of Sun
äußerst kurzen Zeitspannen abgesehen war stets einer von ihnen am Himmel der Nordhalbkugel sichtbar. Die Observatorien lieferten Live-Videos vom inneren Sonnensystem und ungefilterte Funkübertragungen von den besetzten Monden der Systeme von Jupiter und Saturn an eine Überwachungsstation in einem Bunker ein paar Hundert Kilometer nördlich des Tunnelhabitats. Dort analysierte und katalogisierte eine KI sämtliche Daten, und mindestens ein menschlicher Kontrolleur hielt ständig Wache und fischte aus dem allgemeinen Stimmengewirr nützliche Informationen heraus. Eine geringe Zahl verborgener Nachrichtensender schickte in unregelmäßigen Abständen komprimierte Datenpakete von etwa zehn Megahertz an das Habitat, die sich zu Video – und Textnachrichten entpacken ließen. Sie lieferten Informationen über die Aktivitäten der Besatzer und über Ankunft und Abflug von Schiffen, aktualisierten die Listen der Kriegsopfer und derjenigen, die gefangen genommen worden waren und in den Arbeitslagern schufteten, und leiteten Nachrichten von Verwandten und Freunden weiter. Es war eine wichtige Verbindung zu den Städten, Siedlungen und Menschen, die die Freien Außenweltler zurückgelassen hatten, doch die meisten Neuigkeiten aus der Heimat waren erschreckend düster. Unterstützt von Regierungen aus Kollaborateuren verstärkte die Dreimächtebehörde überall ihren Griff. Der Bürgermeister von Paris, einst das Zentrum des Widerstands gegen den Angriff der Erde, war während der Verteidigung seiner Stadt gestorben. Viele seiner Anhänger waren ebenfalls getötet worden, und ein Großteil der Übrigen befand sich im Gefängnis. Gelegentliche Sabotageakte wurden
mit raschen Schauprozessen und Hinrichtungen bestraft. Das Freiheitsrecht und andere zivilen Rechte waren aufgehoben worden. In den Städten und größeren Siedlungen herrschte das Kriegsrecht, und die meisten kleineren Habitate waren zwangsgeräumt worden. Genzauberer und andere Spezialisten wurden dazu verpflichtet, bei der systematischen Plünderung der großen Archive wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse mitzuhelfen. Ein Jahrhundert der Aufklärung, des Utopismus und der demokratischen Experimente war der Dunkelheit anheimgefallen.
Die Freien Außenweltler konnten den Menschen in der Heimat nicht helfen, weil sie der Allianz der drei irdischen Mächte zahlenmäßig und auch waffentechnisch unterlegen waren. Sie konnten auf die Nachrichten von Verwandten und Freunden nicht einmal antworten, weil das Risiko, dass die DMB ihre Übertragungen auffing, zu groß war. Und das kleine Radioteleskop, das sie am Nordpol der Miranda aufgebaut hatten, empfing keine Antwort auf die Signale, die sie an den Neptun und die Zwergplaneten am äußeren Rand des Sonnensystems geschickt hatten – Pluto, Enka, Sedna und andere Orte, wo sich vielleicht Flüchtlinge niedergelassen hatten. Soweit sie wussten, waren sie die einzigen Überlebenden. Die Verantwortung, das Wissen und die Traditionen ihrer Heimat zu bewahren und eine kleine Flamme der Demokratie in der Dunkelheit am Leben zu erhalten, lastete schwer auf ihnen. So richteten sie sich also in ihrem Versteck ein, hielten nach feindlichen Schiffen und Sonden Ausschau und führten intensive Gespräche über ihre Zukunft.
Die meisten wollten kein unnötiges Aufsehen erregen, sich ruhig verhalten und außer Sicht bleiben. Die DMB hatte sie bisher nicht verfolgt, und vielleicht würde sie es auch nie tun. Es hatte sich nämlich schon bald herausgestellt,
dass es weitaus schwieriger war, den Frieden im Außensystem aufrecht zu erhalten, als den Krieg zu gewinnen. Eine lautstarke Minderheit der Freien Außenweltler wehrte sich jedoch gegen die Vorstellung, sich den Rest ihres Lebens verstecken zu müssen, in ständiger Furcht davor, dass sich jeden Augenblick ihr Feind aus dem sternenbedeckten Himmel auf sie stürzen könnte. Außerdem waren die meisten der Freien Außenweltler zwischen zwanzig und dreißig, und viele wollten eine Familie gründen. Ein paar Kinder waren bereits auf der Miranda geboren worden, und einige weitere waren unterwegs. Es würde sich bald als unumgänglich erweisen, ihre gegenwärtige Zuflucht zu erweitern oder an anderen Orten einen neuen Unterschlupf zu schaffen. Dadurch würde sich jedoch das Risiko einer Entdeckung erhöhen. Nein, sie konnten nicht darauf hoffen, ewig unbemerkt zu bleiben. Stattdessen sollten sie sich so schnell wie möglich weiter verteilen und die äußeren Randgebiete
Weitere Kostenlose Bücher