Sonnenfall - McAuley, P: Sonnenfall - The Gardens of Sun
erfahrene Streitmacht mit weit überlegenen Ressourcen zur Wehr zu setzen. Das war während des stillen Krieges nur
allzu deutlich geworden, als eine kleine Expeditionsstreitmacht der Erde die Außenweltler auf ihrem eigenen Gebiet überlistet und überwältigt hatte. Die Freien Außenweltler, die glaubten, einen Guerillakrieg führen oder mit Hilfe des immensen Wissens, das in der Gemeinschaftsbibliothek lagerte, ein überraschend wehrfähiges Waffensystem entwickeln und damit gegen den Feind kämpfen zu können, ergingen sich in tröstlichen Phantasien, die so viel Substanz hatten wie ein Kometenschweif. Bestenfalls würde es ihnen gelingen, ein letztes Gefecht nach Art der Spartaner zu führen, aber es wäre ein sinnloses Opfer. Nein, von nun an würden sie nach dem alten Grundsatz aller Flüchtlinge leben müssen: Sie mussten sich in ihrem Exil still verhalten und sich auf ihren Einfallsreichtum verlassen.
Macy war gleich in zweifacher Hinsicht Exilantin: zum einen von der Erde und nun auch von ihrer zweiten Heimat Dione. Und obwohl sie vor dem stillen Krieg zwei Jahre lang im Außensystem gelebt und nun schon über ein Jahr im Exil auf der Miranda verbracht hatte, konnte sie sich immer noch nicht damit abfinden, den Rest ihres Lebens unter einem Zelt oder Kuppeldach oder im Innern eines Tunnels zu verbringen. Außerdem hatte sie Heimweh. Manchmal rief sie eine Teleskopaufnahme des inneren Systems auf, die von einem der Observatorien übertragen wurde, die an den Südpolen von Ariel, Umbriel und der Titania versteckt waren. Merkur wurde zwar vom Gleißen der Sonne überdeckt, aber die anderen drei felsigen Planeten waren deutlich sichtbar. Die helle Venus, der rostrote Mars und die blaue Scheibe der Erde, die mit ihrer bleichen Braut in der Schwärze hing. Bei maximaler Vergrößerung konnte Macy die Landmassen und Ozeane der Erde erkennen und sogar einige der größeren Wettersysteme, wie zum Beispiel Tropenstürme, die über den Pazifik hinwegwirbelten.
Sie stellte sich vor, wie Regen auf eine wogende Meeresoberfläche niederprasselte, die von einem Horizont zum anderen reichte, wie es donnerte und ein wilder Wind tobte, bis grelle Sonnenstrahlen die Sturmwolken durchbrachen … Die Bilder standen im Geiste klar vor ihr, und sie verspürte einen süßen und schmerzhaften Stich der Nostalgie und des Bedauerns.
Wenn Macy erst einmal anfangen würde, über all die Dinge nachzudenken, die sie vermisste, würde sie kein Ende finden. Schnee, der unter ihren Stiefeln knirschte, und ein eisiger Wind, der ihr ins Gesicht wehte, während sie mit den anderen Arbeitern des R & S-Korps ans Werk ging, um die Ruinen von Chicago abzuräumen. Die Sonne, die über dem Oberen See unterging und in einer dünnen, rosafarbenen Wolkenschicht am dunkelblauen Himmel versank, wobei sich das ganze Schauspiel in der ruhigen Wasseroberfläche widerspiegelte. Messingfarbene städtische Sonnenuntergänge über den Dächern von Pittsburgh. Der langsame Sonnenuntergang über der weiten Ebene von Nebraska und die Sternenimperien, die den Nachthimmel dort bedeckten. Sonnenlicht heiß auf ihrem Gesicht, rot unter den geschlossenen Augenlidern. Regen. Sturmgepeitschte Wellen, die sich schäumend an einer felsigen Küste brachen. Das Zirpen von Grashüpfern in trockenem Sommergras. Kathedralenartige Wälder. Blasse Rosen, die auf einer dunklen Lichtung leuchteten. Mengen fremder Menschen, die sich durch geschäftige Straßen wälzten.
Sie vermisste Fleisch. Die Außenweltler waren aus der Not heraus Vegetarier, und die Fleischnachbildungen der Nahrungssynthetisierer waren von ihrem Vorbild weit entfernt. Macy träumte davon, in den Gärten des Habitats ein paar Hühner zu halten. Die Freien Außenweltler verfügten über die nötigen Kenntnisse und die Ausrüstung, um aus
Genomkarten Pflanzen und Tiere zu erschaffen, und in der Gemeinschaftsbibliothek gab es Tausende von Karten aller möglichen Spezies. Wahrscheinlich wäre es nicht möglich, eines der Hühner zu töten und zu kochen – damit würde sie sämtliche negativen Vorurteile bestätigen, die die Außenweltler über sie hatten –, aber zumindest hätte sie einen Vorrat an Eiern …
Gegenwärtig, etwa vierhundert Tage, nachdem die Außenweltler begonnen hatten, die Miranda zu besiedeln, hatten Erde und Uranus ihren größten Annäherungspunkt erreicht und waren trotzdem immer noch knapp 4,4 Milliarden Kilometer voneinander entfernt – eine Kluft, die beinahe unvorstellbar war. Macy
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