Sonnenfinsternis: Kriminalroman
freundlich. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass die meisten Einwohner dieser Gegend Ausländer waren und einen grossen, kräftigen und schräge Fragen stellenden Schweizer vor ihrer Tür ungefähr so herbei sehnten wie die Beulenpest. Ausserdem war gerade Essenszeit. Trotzdem gelang es mir, von den meisten wenigstens eine kurze Auskunft zu erhalten, ohne dadurch allerdings auf etwas Neues zu stossen. Die Hasanovićs schienen keine nachbarschaftlichen Kontakte zu pflegen. Wenigstens bestätigte die männliche Hälfte des in der Wohnung neben dem Hauseingang leben den Seniorenpaars, dass Mujo tatsächlich oft spät nach Hause gekom men war. Auf mein Nachhaken hin war «meist weit nach Mit ter nacht» jedoch alles, worauf sich der kleine, nervöse Rentner festlegen wollte.
Um halb acht hatte ich genug. Es war Zeit, einen Schritt weiter zu gehen. Ich fischte mein Mobiltelefon aus meiner Hosentasche, entsperrte es und schrieb eine SMS an Markus Steiner, einen meiner wenigen ehemaligen Polizeikollegen, mit denen ich noch regelmässig Kontakt hatte. Wir waren gute Freunde, seit wir vor bald fünfzehn Jahren gemeinsam die Infanterie-Offiziersschule absolviert hatten. Danach waren wir gemeinsam durch die Polizeiausbildung gegangen und als Frischlinge auch noch der gleichen Wache zugeteilt worden. In weniger als einer Minute antwortete er auf meine SMS und schlug vor, uns in dreissig Minuten am ‹ üblichen Ort › zu treffen.
Der besagte ‹übliche Ort› war das Pub Paddy Reilly’s bei der Sihlporte im Stadtinnern. Die Haltestelle Sihlstrasse lag gleich davor. Ich ging zurück zur Freihofstrasse und bestieg das nächste Zweiertram Richtung Osten. Unterwegs liess ich die Levellers erneut meinen Durst anfachen .
Auf der Hälfte der Strecke begann es zu regnen.
Kapitel 4
Markus Steiner sass an einem Zweiertischchen in der Ecke, mit dem Rücken zur Wand. Eine Berufskrankheit. Über ihm hing ein grosser Flachbildfernsehe r, aus dem ausgerechnet MTV die Bar berieselte . Sonst lief m eistens entweder Fussball oder irgendeine exotische Sportart von der Grünen Insel wie Cricket oder Gaelic Football . Die orange farbenen Wände waren mit allerlei irischem Krimskrams zugepflastert, und die meisten Angestellten waren Iren. Das Paddy Reilly’s Irish Pub war eines meiner drei Lieblings wasserlöcher in der Stadt und seit Jahren der übliche Ort, wo ich Steiner auf ein paar Bier traf.
Er war gleich alt wie ich, also fünfunddreissig, hatte eine glänzende Vollglatze und war von mittlerer Statur; drahtig, aber nicht wirklich muskulös, mit Gesichtszügen wie aus Stein gemeisselt. Er war in Zivil und trug verwaschene Jeans und ein zerknittertes schwarzes T-Shirt. Man hätte ihn leicht unterschätzen können, wären da nicht seine Augen gewesen. Sie waren kalt, stahlblau und durch dringend und spiegelten eine innere Stärke und Entschlossenheit wieder, auf die das eher unscheinbare Äussere nicht schliessen liess. In Tat und Wahrheit war er einer der zwei oder drei härtesten Männer, die ich je getroffen hatte. Die letzten zwölf Kilo meter des traditionellen, die Ausbildung beschlies sen den Hundert kilo meter-Marschs der Offiziersschule hatte er damals mit einem gebro chenen Fuss absolviert. Im Gegensatz zu mir hatte er später auch die Möglichkeit nicht genutzt, sich als Polizist vom Militärdienst frei stellen zu lassen. Ganz im Gegenteil, er war mittler weile General stabs offizier und gehörte damit zu einer kleinen Elite unter den Offizieren der Schweizer Armee. Sein Spitzname im Polizeikorps war ‹der Papst›, weil er sich selbst für praktisch unfehlbar hielt und das auch tatsächlich beinahe war . Ausserdem war er streng katholisch, konser vativ und schonungslos sowohl im Um gang mit Kollegen wie auch ‹Kunden›, wie er das nannte. Die meisten Menschen waren automatisch vorsichtig im Umgang mit Markus Steiner. Aber die kannten ihn auch nicht so lange und so gut wie ich.
Er schaute meine durchnässte, zerknitterte Erscheinung grinsend an und meinte ironisch: «Na du, wieder wie aus dem Ei gepellt, was? Wie läuft die Privatdetektiverei?»
Ich zeigte ihm meine rechte Faust samt erhobenem Mittelfinger und erwiderte: «Erstens gibt es dieses Wort gar nicht, Hochwürden, und zweitens bin ich Privat ermittler . Und es läuft einigermassen, danke.»
«Gut zu hören. Was trinkst du?»
Ich sagte es ihm . E r stand auf, ging zur Bar und kam ein paar Minuten später wieder mit zwei Pint-Gläsern voll dunklem
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