Sonnenwanderer
sich behielt.
Tabea sah Sarah hier in ihrem Bett sitzen, nackt, sich selbst umarmend. Ein Kind in einem erwachsenen Körper. Manchmal war sie aufgewacht, nur um sie still weinend im Dunkel zu finden. »Die Probleme anderer Leute überfordern mich einfach.« Er fühlte ihren Puls.
Wie auch immer, dachte sie, das war alles Schnee von gestern.
Mit ihrem Hobby hatte Sarah auch ihre Unabhängigkeit entdeckt. Das letzte Mal, dass Tabea stoned genug gewesen war, um sie anzurufen, hatte sie es läuten und läuten lassen. Sie war in den Game-Pod geklettert, und als sie wieder herausgeklettert war, hatte sie das Klingelzeichen noch immer gehört.
»Mademoiselle Will-Nicht«, sagte sie stinksauer. »Ah ja«, sagte der Gute Doktor, »das ist eine Parodie auf ein altes Gedicht. Sie wissen ja, das Imago, das kleine Mädchen ist auch aus einem Buch …«
»Sie sagen es. Ich hab gesehen, wie sie darin gelesen hat.« Und Sarah hatte nicht sagen können, woher sie es hatte, dieses Buch. Es musste Sarah auf die Idee gebracht haben, zu verschwinden und ihr das Kind zu schicken, nur um sie zu quälen. Weiß der Himmel, was das alles zu bedeuten hatte.
»… Es heißt Alice im Wunderland .«
»Nein«, sagte Tabea. »So hieß es nicht. Es hieß Peter Pan . Daraus hat Paps uns immer erzählt. Alice?«, fragte sie, nachdem die Worte des Doktors zu ihr durchgedrungen waren. »Alice war auch aus einem Buch, ja. Aus Alice Liddell wahrscheinlich. Alice weiß das besser.« Sie sah, wie er schrieb. »Keine Sorge, Doktor«, sagte sie. »Ich leide nicht an Wahnvorstellungen. Jedenfalls nicht an der, dass wir Alice jemals wiederfinden.«
Aus dem Bordfunk am Bett platzte ein empörter Mister Spinner. »Alice ist keine Platine! Alice ist ein Ego, ein sprachgesteuertes, selbst-reflexives grammatikalisches Metasystem!«
»Hören Sie etwa die ganze Zeit zu?«, schrie Käpt’n Jute.
Mister Spinner wirkte aufgebracht. Irgendetwas beunruhigte ihn. Die Falten neben seinen Mundwinkeln waren tief und scharf. Die Brille war auf die Nasenspitze gerutscht. »Vergessen Sie die Platte, Käpt’n, die Platte löst nicht ein einziges Problem!«,
blaffte er sie unbeherrscht an. »Käpt’n, ich muss Sie unbedingt sprechen, und zwar persönlich.«
»Später«, sagte sie, »wenn ich auf der Brücke bin.« Er sah derart aufgebracht aus, dass sie sich durchs Bett wühlte und die Verbindung kappte. »Schuld ist dieses verdammte Schiff«, sagte sie. »Es treibt uns noch alle in den Wahnsinn!« Sie wühlte sich auf ihre Seite zurück. »In dem Moment, wo wir materialisieren, bin ich weg, das sage ich Ihnen. Dann bin ich diejenige, die von der Bildfläche verschwindet, so wahr ich hier liege.«
»Das Milieu«, sagte der Gute Doktor und klopfte mit der Seite des Zeigefingers an seine Zähne. »Leukophobie, die irrationale Angst vor der Tabula rasa, dem Gelöschten … Wir dürfen nicht vergessen, dass wir alle Opfer einer extremen Entkopplung von Raum und Zeit sind.« Er hielt beide geöffneten Hände vor sich, als wolle er einen unsichtbaren Globus unterstützen. Das Notizbuch rutschte ihm von den Knien und fiel aufgeschlagen aufs Bett. Er hatte sich gar keine Notizen gemacht, sah Tabea, er hatte herumgemalt: Spinnennetze, Schirmpilze, große spritzende Penisse.
»Vielleicht sind diese Schimären Symptome …«, rhapsodierte er. »Unwillkürliche Halluzinationen … warnende Archetypen, die am äußersten Rand unserer Identität patrouillieren …«
»Sarah steckt dahinter.«
Der Gute Doktor stellte den Kopf schief. »Mangelnde Zuwendung? Ein Hilferuf?«
So sah sich Sarah. Tabea fielen die Worte ein, die der Mund des kleinen Gespenstes geformt hatte, die Worte, die nur sie gehört hatte: »Hör mal, so geht das aber nicht.« Worüber beklagte sie sich? Was konnte sie noch tun, was sie nicht schon tat? Wenn Sarah ihr etwas zu sagen hatte, warum kam sie dann nicht und sagte es? War sie in Schwierigkeiten?
»Findet Sarah Zodiak«, befahl sie. »Sucht sie!«
»In ihrer Wohnung ist sie nicht«, meldete Otis. »Und das schon seit einer halben Ewigkeit.«
»Und der Souviens-Laden ist inzwischen leer«, meldete Clegg.
Käpt’n Jute warf sich auf die andere Seite. Sie war erschöpft. »Treibt sie einfach auf!«
Dann fiepte der Bordfunk. »Käpt’n auf die Brücke! Käpt’n auf die Brücke!«
»Allmächtiger«, sagte sie mit leiser, entnervter Stimme.
»Obristin Stark ist hier, Käpt’n.«
Sie versteifte sich, raffte das Nachthemd zwischen ihre Brüste.
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