Sonnenwanderer
Giftplaneten eine Raumbestattung.
Hannah war mehr als bereit gewesen, erinnerte sich Sarah und umfing die Tote mit einem zärtlichen Blick. Als Hannah zwischen Leben und Tod geschwebt hatte, hatte Sarah sie sehr lieb gewonnen. Hannah war vermutlich wie eine Mutter zu ihnen gewesen, zu ihr und Mogul und Xtaska und Marco und Talo. Sarah hatte Hannah Su respektieren gelernt, vielleicht so wie es Tabea mit ihrer Alice ergangen war.
Die Bogenlichter wanderten auf dem Glastorpedo, wenn sich der Gesichtswinkel verschob.
Sarah sah sich selbst unter den Trauernden. Die Tränen auf ihren Wangen glitzerten liebevoll; die dunklen Ringe um ihre Augen waren durch die Standard-Optimierung von J. M. Souviens zu Violett aufgehellt worden. Das war Hannahs zweite Bestattung gewesen und die erste für Sarah. Ihr fiel ein, dass ihr
bei der Bestattung durch den Kopf gegangen war, wie furchtbar traurig so etwas war, und dass Mogul und all die anderen, die ums Leben gekommen waren, auch so etwas verdient hatten.
Käpt’n Jute hielt eine Flasche Champagner in der Hand, die an einem dünnen Band befestigt war. »Ich lasse dich nicht fort«, hörte Sarah sie zu dem Leichnam sagen. »Du schuldest mir noch Geld.«
Ein Scherz. Alle lachten verlegen und lachten umso lauter, als Hannahs Synthesizer verträumt erwiderte: »Ich habe keins mehr, Schätzchen. Gerechtenschlaf hat mir auch den letzten Pfennig abgeknöpft.«
Dann erklang Orgelmusik, eine schwermütige Tokkata und Fuge. Sie kam von Xtaska, die hoch über der Szene schwebte. Der Cherub trug einen monströsen Hut.
»Was?« Sarah war aufgesprungen. »Das stimmt aber nicht!«
Ziemlich aufgebracht langte sie in den Würfel aus getrickstem Licht und versuchte die Störung wegzuwischen.
Das Begräbnis wurde blass und transparent, und mittendrin tauchte die grüne Flamme wieder auf. Sie schwankte respektvoll, als sei sie nicht sicher, welcher Fehler ihr unterlaufen war. »J. M. Souviens entschuldigt sich für jedes Ärgernis, das durch Versäumnisse oder Ungenauigkeiten verursacht wurde...«, murmelte die Flamme.
»Ich weiß nicht, woher ihr das mit dem Hut habt«, sagte sie scharf.
»Je mehr Erinnerung zur Verfügung steht, umso verlässlicher ist das Bild«, sagte der Pavillon zuversichtlich.
Sarah recherchierte im Netz von Plenty. Und sie lieferte mehr Informationen. Die staubgeschwängerte Luft über dem Holodeck füllte sich mit peinlichen Gestalten, komischen Gesichtern
und ebensolchen Blumen. Sarah saß da und futterte Ingwerplätzchen, derweil der Cherub erst Bach und dann irgendeinen chinesischen Jazz spielte. Zum wiederholten Mal kündigte eine Miniatur-Tabea an, ihre Mundharmonika zu holen, doch ihr wurde zum wiederholten Mal abgeraten. Zum wiederholten Mal schlug sie die Flasche auf die Nase des Torpedos. Falscher Champagner schäumte, und komprimierte Luft zischte, und alle riefen Lebewohl, als Hannah Sus Glassarg die Rampe hinuntersauste.
Als Hannah durch den Teflonschacht in die Leere schoss, rief sie: »Alice? Alice, ich glaube ich falle...«
»Folge ihr«, sagte Sarah. Sie setzte sich vor und hielt Ausschau nach dem winzigen weißglühenden Stern, der schließlich blinzelte, als Hannahs Sarg in die Atmosphäre der Venus stürzte.
Diesmal war etwas anders gewesen. Vielleicht war es schon die ganze Zeit da gewesen; oder eine von den neuen Speicherkarten hatte etwas Entscheidendes beigesteuert, etwas, das den Unterschied ausmachte.
Da war nämlich ein Schiff. Es war kaum zu sehen, aber es war ein Schiff.
»Standbild«, rief Sarah. In der Ferne wurde ein Alarm ausgelöst, im hintersten Winkel ihres Gehirns.
Sie fegte den Schleier zurück. »Ich will das Schiff sehen.«
Es sah eher wie eine Wolke aus, wie eine Blase im All. Es blieb im Hintergrund, still, anonym. Selbst herangezoomt, bis der vage Umriss das Gesichtsfeld füllte, blieb es gesichtslos. Seine Hülle war ein vollkommen schwarzer Spiegel, wie Xtaskas Haut.
Der Alarm in ihrem Kopf nahm eine betäubende Lautstärke an.
»Bist du sicher, dass es da war?«
»J. M. Souviens entschuldigt sich für jedes Ärgernis, das durch Versäumnisse oder Ungenauigkeiten verursacht wurde...«
»Ist ja schon gut. Natürlich war es da.« Sarah setzte sich zurück, ihr Puls raste. »Abspeichern und beenden«, sagte sie.
Sie saß da und stierte ein Loch in die Welt, futterte Ingwerplätzchen, bis die Packung leer war. Dann streifte sie den Ärmel hoch und rief den Käpt’n an.
Sie ließ es klingeln und klingeln.
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