Sonnenwanderer
Plastiktafeln und Porzellit. Tote pinkfarbene Röhren schrieben den Namen J. M. Souviens über die Tür. Fenster gab es nicht. Sarah knackte das Schloss und fand einen fünfzig Zentimeter hohen Sockel mit einem quadratischen Querschnitt von einem Meter Kantenlänge vor; ringsherum Komfortsitze. Die Decke hing voller
Apparaturen: AV-Ausrüstung, wie es schien, und eine Armee von Projektoren.
Kaum hatte sie Platz genommen, als es einen Schluckauf tat und eine zwei Meter hohe grüne Flamme auf dem Sockel waberte. Sarah war vor Schreck aufgesprungen.
»J. M. Souviens reicht Ihnen den Schlüssel zu goldenen Zeiten und einem Hort der Erinnerung«, murmelte eine warme Stimme aus dem Nirgendwo.
Sarah setzte sich mit einer Pobacke auf die Kante des Holodecks und blickte empor. Die Flamme war ein Hologramm. Es ruckelte und tänzelte einladend.
»Du bist ein Daten-Atelier«, meinte Sarah.
»Öffnen Sie die berühmte Schleuse zur Vergangenheit und stellen Sie die Uhr für eine Weile zurück.«
»Ich habe keine Uhr«, sagte Sarah.
»Gehen Sie zurück in der Zeit und folgen Sie noch einmal dem sonnigen Pfad der Erinnerung...«
»Hörst du überhaupt zu?«
Das Atelier tat den nächsten Schritt in seinem Programm. »Je mehr Informationen Sie liefern, umso detaillierter wird das Ergebnis«, erklärte es. »Unsere Optionen reichen von Tableau-Paketen zum Basistarif bis zu...«
»Ich habe nur wenige Informationen«, sagte Sarah. »Da war der Garten, wo ich mit meinen Brüdern und meiner Schwester und den lustigen Tierchen und den schwarzen Feen gelebt habe - das waren natürlich die Cherubim. Xtaska weiß vielleicht etwas von damals, aber gesprochen hat sie nie darüber.
Und dann war da noch die Konterbande und Marco Metz und, ach ja, Schiaparelli und Callisto und San Pareil, alle diese Orte. Für mich war einer wie der andere: das Innere eines Vans, das Innere eines Gebäudes, das Innere eines billigen
Hotels. Niemand hat Bilder gemacht. Die Einzige, die vielleicht...«
Plötzlich, angesichts einer ganzen Serie von Gedanken, hielt sie inne. »Ich weiß jetzt, was ich sehen will«, sagte Sarah Zodiak.
Die Atelierkette J. M. Souviens machte es den Leuten möglich, ihre Hochzeit zu sehen, ihren Skiurlaub auf Olympus oder die Ballontauchfahrt ihrer Enkel in den Jupiter. »J. M. Souviens bietet Ihnen ein flexibles Menü zur Sichtsteuerung«, sagte die grüne Flamme. »Erleben Sie, wie das Zoom zur realen Nähe verhilft!« Das Ego war vom Typ Nero-Corban-Ariel-Sechs, ein hilfreiches Serienprodukt, das im Grunde nur visualisieren konnte.
Sarah schleppte CDs und Speicherchips an. »Da kommt mehr zusammen, als ich dachte«, erzählte sie der Flamme, während die Maschine die Daten verdaute. »Vermutlich alles vom Anfang der Reise, als die Leute noch ziemlich aufgeregt waren. Und viel von Tabea«, überlegte sie. »Die Kameras haben ihr förmlich aufgelauert.«
Sarah zupfte ihren Schleier zurecht, dann die Falten ihres langen schwarzen Kleids. »Wenn du bereit bist.«
Die Miniatur-Szene auf dem Holodeck zeigte einen gläsernen Torpedo, in dem eine regungslose alte Frau lag. Die Tote steckte in einer Art Schlafsack aus gestepptem Satin, hatte Raureif in den Nasenlöchern und trug unter dem Kinn einen reich verzierten Synthesizer. Die pflaumenrot geschminkten Lippen standen ein wenig offen; die blinden Augen starrten ins Leere. Der gläserne Torpedo ruhte Nase abwärts auf einer Entladerampe. Die gläserne Luke unter dem Kopf der Frau erschien als gestirntes schwarzes Viereck - darin schwamm eine grüne Erbse von der Größe eines Fußballs.
»Das ist ziemlich gut«, sagte Sarah und erhob sich. »Gibt es hier auch was zu essen?« Sie ließ den Blick durch den Pavillon schweifen, als erwarte sie jeden Moment eine Platzanweiserin mit einem Bauchladen voller Popcorn.
Die alte Frau hieß Hannah Su und war die Managerin der Konterbande gewesen. Tiefgekühlt im Schlaf-der-Gerechten und aufgetaut für unumgängliche Besprechungen, hatte sie für Sarah nie zu den Lebenden gezählt.
In Hannahs letzten Tagen, als sie neben Alice im Gewirr der exotischen Programme gearbeitet hatte, waren ihre nachlassenden Geisteskräfte schließlich ganz zum Erliegen gekommen. Der Soundtrack ließ die Gauklerin am endgültigen Zerfall von Hannahs Persönlichkeit teilhaben. »Groß auf Ganymed … Sag Banjo, keine Tierszenen. Der Vertrag ist nie angekommen, hörst du, hörst du...« Jetzt bekam Hannah Su auf eigenen Wunsch hoch über dem
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