Sonnenwanderer
animierten Rekonstruktionen berühmter Raubzüge. Selbst augenfällige Falschmeldungen wurden in die Welt gesetzt und dann zerpflückt, nur um das Programm zu füllen. Ein chinesischer Astrologe schlug vage Deutungen von silbernen Graffiti vor, die das Phantom hinterlassen hatte. Und Pater Le Coq
wurde nicht müde zu behaupten, sie sei der Teufel. »Die Teufelin reitet dieses Teufelsschiff und steuert unsere Seelen geradewegs in die Hölle!«
Kanal 2 spekulierte natürlich nicht über den Diebstahl einer Ego-Platte. Als Dodger Gillespie Tabeas Hilferuf folgte, wurde gerade die grüne Kuppel auf den Kopf gestellt, Quadratzentimeter um Quadratzentimeter, unter der Leitung von Lomax. Bis jetzt waren eine Menge vermisster CDs und Kreditmarken aufgetaucht, aber kein Bergen-Kobold-Ego.
»EGAL WIE DIE SUCHE AUSGEHT, ICH BIN ÜBERZEUGT, DASS DIE PLATTE DIE GANZE AUFREGUNG WERT IST«, meinte Alice. Tabea machte sich nicht die Mühe zu antworten. Kenny kauerte neben ihrem Sessel und beobachtete sie alle. Zoe Primrose war eine Treppe höher und führte immer noch Befragungen durch. Man hatte die Tasche von Käpt’n Jute gefunden und umgestülpt. Heraus fielen neben eher persönlichen Dingen ein schmuddeliges gelbes Sweatshirt, das mit dem Wort TIGER bedruckt war; vier verschiedene Plastikbehälter mit Pillen und Pudersorten, alle angebrochen; ein Speicherchip, den ihr ein Verehrer gegeben hatte, auf dem er selbst in mehreren Posen nebst intimen Ausschnitten zu sehen war; ein Packen Berichte aus dem Plenum, die sie unbedingt noch lesen wollte; ein mit Kaugummi verklebtes und falsch programmiertes zanisches Armbandset, das verrücktspielte; eine Haarbürste voller Haare; etliche Papiertaschentücher, gebrauchte und saubere; ein Beutel verklumpter Schokoengel; ein paar Kreditmarken; zwei Fernbedienungen und etwas, das wie eine solche aussah, aber in Wahrheit ein Nervenblocker war, eine sinnlose Waffe, weil sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie funktionierte.
Keine Ego-Platte.
»Und du glaubst, dass sie es war?«, fragte Dodger und wunderte sich, warum Tabea so viel Aufhebens machte.
Ohne aufzusehen, murmelte Tabea verbittert: »Wer soll es sonst gewesen sein?«
»Wenn es sie überhaupt gibt«, sagte Dodger. Sie dachte an die Gestalt in der Kaverne und schwieg.
»Jemand ist hier rein, hat sich die Bildschirme angesehen, die Platte geschnappt und ist raus damit«, erklärte Mister Spinner zum tausendsten Mal. »Nur fünf Leute haben sie wirklich bemerkt, und alle hielten sie für Käpt’n Jute.« Die Überwachungskameras schienen keinen Anhaltspunkt zu liefern. Tatsächlich waren die Aufnahmen mit seltsamen Leerstellen und Flecken durchsetzt, die ganz bestimmt keine Abnutzungserscheinungen waren.
»EINE ZIEMLICH BEDAUERLICHE SACHE«, sagte Alice höflich. »ES WÄRE BESSER, DIE SLOTS LIESSEN SICH VERRIEGELN.« Der Verlust ihrer früheren Existenzgrundlage schien sie nicht gerade aus der Fassung zu bringen.
»Plenty verliert nichts«, meinte Dodger.
»Wenn das jemand anders sagt, nehm ich ihn auseinander«, knurrte Tabea.
Die Suchaktion sich selbst überlassend nahm sie Dodger mit in eine Bar. Nicht ins Trivia, in eine anonyme Automatenbar an der Hauptstraße, wo jeder irgendwohin unterwegs war. Aus dem Halbdunkel abseits der Straße tauchte eine dünne, schwanzlose Schrantin auf, als habe sie auf die beiden Menschinnen gewartet, sprach Tabea an und lief neben ihnen her. Dodger sah ein Glitzern wie von gemahlenem Glas in einem durchsichtigen Kuvert. »Nein«, sagte Tabea laut und drängte die Schrantin ab. »Nein. Geh jetzt.«
In der Bar kauften sie Bier und gingen damit in eine schattige
Ecke. Dodger trank, zog die Lippen zurück und genoss den würzigen Geschmack. »Alice klingt ja noch ganz gefasst«, meinte sie.
»Ihr Surrogat, meinst du«, sagte Tabea düster.
Dodger suchte die schwelenden Augen ihrer alten Kameradin. »Ein Ego ist auch nur …«
»… ein Surrogat«, sagte ihre Gefährtin und wand sich gereizt in ihrem Sitz. »Ich weiß, ich weiß. Ich hab dich nicht hergeschleppt, damit du mir das verdammte Handbuch vorliest.« Sie pflückte einen Resopalsplitter von der Tischkante.
Dodger sah zu, wie sie mit dem Splitter auf ihrem Bierdeckel herumpickte. »Warum hast du mich hergebracht?«
Tabea warf ihr Spielzeug fort. Sie wirkte niedergeschlagen und ein bisschen paranoid. »Du musst da hinunter und sie finden, Dodger. Finde die Geheimnisvolle, egal wer sie ist, und bring mir Alice zurück. Nimm
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