Sonnenwanderer
veranlasst hatte, in den Hauptbezirken des Schiffes herumzulaufen und Schilder aufzustellen. Xtaskas Kommunikationskaverne war zum Thalamus erklärt worden. Jede Ritze war jetzt eine Hirnfurche, jeder Grat eine Hirnwindung. »Achtung - Sie betreten jetzt die Sehnervenkreuzung.«
Käpt’n Jute sah sich nach Sarah um. Da war sie: eine neurasthenische Pierette, weißes Hemdchen, bauschige Hosen. Sie plauderte mit einem Kellner. Hoffentlich blieb es beim Smalltalk. Sie hatten nicht vorgehabt, lange zu bleiben.
»Käpt’n. Bitte. Hier entlang.«
Nach rechts und links grüßend, folgte sie ihrem Gastgeber quer durch den Saal. Die Theosophen aus der Zirbelgrotte waren zahlreich vertreten und machten sich lieb Kind beim Management. Erweiterte junge Techniker und ältere Männer in Anoraks
kletterten überall an den Teleskopen herum und machten sich gegenseitig auf technische Besonderheiten aufmerksam.
Appetithäppchen ablehnend und Komplimente annehmend setzten Käpt’n Jute und der Supervisor ihren Weg fort, bis sie unter einem der gewaltigen Fenster standen. Tabea sah ihr Spiegelbild im mehrschichtigen Glas. Wenn sie sich bewegte, schienen sich die Karos ihres Anzugs rings um sie herum zu einem regenbogenfarbenen Fächer zu vervielfältigen, einem dreidimensionalen Modell der Zeit, das ihre vergangenen und künftigen Egos simultan darstellte. Ein komischer, unbehaglicher Anblick.
»Dann ist Kànfă also ein Begriff aus der chinesischen Anatomie?«, fragte sie.
Der Supervisor schüttelte schnell den Kopf, sein Lächeln wirkte gezwungen. Er schwitzte und verströmte Wohlgeruch. Sie begriff, dass sie ihn quälte. »Kànfă«, sagte er. »Das heißt Auffassung. Betrachtungsweise.« Er schien nicht in der Lage, den Blick von ihrem extravaganten Anzug zu lassen.
Tabea hatte den Empfang bereits satt. Sie sah sich nach Kenny um. Er war von drei Frauen umgeben, die Tabletts mit chinesischen Süßigkeiten hielten und bewundernd kicherten. Sie wollten unbedingt seinen glänzenden Pelz streicheln. Um eine hatte er den Arm gelegt. Tabea hätte sich nicht gewundert, wenn er eine andere heimlich mit dem Schwanz geschubst hätte. Ein winziger Wink mit dem Kinn genügte.
Sie blickte über die Schulter, nur um festzustellen, dass die glänzenden schwarzen Augen des Supervisors immer noch auf sie gerichtet waren. Sein Lächeln wuchs und wurde noch ehrerbietiger, hing wie ein Halbmond zwischen den Teleskopen.
Tabea fühlte sich auf eine vage Weise schuldig, als sei sie verpflichtet, seiner Qual ein Ende zu bereiten. Sie blickte zu
den Fenstern empor, suchte ein paar abrundende Worte zum Abschied. »Also, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich beeindruckt bin, Sie haben hier wirklich eine Menge Arbeit investiert …«
Sie ging davon aus, dass sich die jeweilige Sternenkonstellation nach den Daten richtete, die von der Brücke kamen, die auch weiterhin Brücke hieß, obwohl der gleichnamige Teil des Gehirns eigentlich ganz woanders lag - die Brücke, wo die Brückenleute ihre Schirme studierten wie Mönche ihre Manuskripte, damit das Schiff auch ja latent vorhanden blieb in all den Existenzlücken. Gegenwärtig gab es viel Aufregung um Signale aus dem sogenannten Wernicke-Vorhof. Viele Brückenleute waren überzeugt, dass es sich bei diesen Signalen um die legendäre Sternenmusik handelte: Fragmente aus den Chorälen ferner Galaxien. Hörbar freilich nur, wenn es gelang, die Signale zu dekodieren.
Hier ließen sich Passagiere vermutlich auch das Äquivalent ihrer Route im wirklichen Weltall zeigen. Das Konzept war gaga, andererseits bekamen die Leute etwas Konkretes an die Hand, dem sie folgen konnten und das sie auch verstanden. Doch als Tabea in das simulierte Weltall sah, kamen ihr die Gruppen von winzigen Lichtern auf einmal vertraut vor. »Aber das ist ja ein terranischer Himmel«, entfuhr es ihr.
Der Supervisor verneigte sich einmal mehr und strahlte vor Zufriedenheit. »Ah ja, Käpt’n.« Seine Hand kam aus der eleganten Manschette. »Die Konstellationen von zu Hause. Der Rinderhirt und die Weberin, was wir ertragen, was uns tröstet.«
Tabea röhrte mit ihrer Shiva 900 durch die Tunnel der Postzentralen Windung, Sarah auf dem Sozius. Ratten huschten sorglos hin und her oder klebten platt gewalzt am Boden. In den Septalgewölben, unter den Brücken und hoch oben, gingen die
zerlumpten Einwohner der Krähenkolonien ihrem riskanten, vertikalen Leben nach. Von Plattform zu Plattform schwangen sich gewaltige
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