Sonntag bis Mittwoch
einbilde? Das hoffste wohl?«
Ich zögere, überlege. Wenn er jetzt überschnappt –
»Na, Paps? Meinste, ich hätte Wahnvorstellungen, wie's die Ärzte nennen? Ja?«
Aber dies ist eine Gelegenheit, die zu ignorieren oder übergehen ich mir nicht leisten kann. »Hier ist keine Katze.«
Wilby springt auf. »Und nachgestiegen ist mir heute auch niemand? Du hast keine Katze hergebracht und mir keinen Schatten angehängt, um mich zu reizen? Das willste wohl sagen, du Hund?«
Einen Augenblick scheint mir, als wolle er wieder um sich schlagen, und ich spüre, wie sich meine müden Muskeln verkrampfen, wobei mir der Revolver oben einfällt.
Doch er runzelt die Stirn. Unsicherheit umwölkt seinen Blick, und er läßt sich auf die Couch fallen. »Na, is vielleicht gar nich so schlimm. Weißte, ich hab' sie schon gesehen. Beide Arten. Manche tragen die Hölle in sich. Tag und Nacht. Andere allerdings … glücklichere … fanden eine Art Frieden … leuchtende Gesichter … als hätten sie das Nirwana erreicht … Erlösung.« Er bricht ab, schaut ohne ein Lächeln mit traurigen, aber irgendwie hoffnungsschimmernden Augen zu mir auf. »Kapierste, Paps?«
Wieder spüre ich seinen Wunsch auf Kontakt, sein verzweifeltes Bedürfnis, verstanden zu werden. Trotzdem kann ich ihm nicht die Befriedigung verschaffen, mich noch mehr mit dem tödlichen Gift des Mitleids anstecken zu lassen. Ich wende mich der Tür zu.
»Wenn du die Katze wieder 'reinläßt, wird's dir leid tun!«
Ich öffne die Wohnzimmertür und drehe mich im düsteren Wohnzimmer zu ihm um.
Er steckt seinen Kopf herein und läßt seine Blicke ängstlich durch den Raum huschen. »Hör zu, Mann, du mußt bleiben und mit mir reden!« Seine Stimme ist ebenso elend wie sein Gesichtsausdruck. »Wenn du mich jetzt allein läßt, dann spring' ich von der verdammten Terrasse. Ehrlich. Kannste glauben!«
Was ich merkwürdigerweise tue. Er drängt mir, wie immer, seinen Willen auf, aber die Drohung ist nicht leer. Warum lasse ich ihn nicht springen? Warum zwinge ich ihn nicht, zu springen? Dann fällt mir der Brief in seiner Tasche ein und erweckt alle geballten Ängste und Gefahren der letzten beiden Tage; ich blicke zum leeren Gästezimmer hinauf – hat er die offene Tür, das Licht bemerkt? Langsam kehre ich in die Bibliothek zurück, frage mich, warum. Aber kommt es jetzt noch darauf an?
In der Bibliothek hat Wilby den umgestürzten Sessel wieder aufgerichtet. Er quittiert seinen Sieg nicht mit einem Lachen, sondern sagt, während er sich auf der Couch ausstreckt: »Danke, Paps.« Und in mein Erstaunen hinein fährt er fort: »Weißte, was Gautama gesagt hat? Er hat die Leute am Ganges gelehrt, den ›Zorn mit Güte zu überwinden‹. Willste das auch? Güte. Wie die Heiligen –«
Wilbys Stimme klingt unnatürlich gelassen, voll jungenhafter Aufrichtigkeit, der ich mich in meinem schlaftrunkenen Zustand nicht gewachsen fühle.
»Weißte, wer Gautama war, Paps?«
»Ich bin dem Herrn noch nicht begegnet.«
»Buddha. Geboren sechshundert Jahre vor dem lieben Jesulein.«
Dies klingt schon eher nach ihm. Wilby mag einsam oder verzweifelt oder beides sein, aber er braucht einen Zuhörer fast so nötig wie ein Opfer.
Draußen zeichnet sich die erste Andeutung von Dämmerung ab. Ein neuer Tag, und was wird er bringen? Ich schließe die Augen. Ein Tag näher am … Nichts.
Ich höre Bewegungen, als setze er sich auf.
»Die Erleuchtung«, sagt er sanft, »kam Gautama nach einer schlaflosen Nacht unter einem Feigenbaum in Bengalen –« Er hebt die Stimme. »Erleuchtung, Paps. Is Wissen nich besser?«
Ich antworte nicht. Gibt es darauf eine Antwort? Hat man die unterschwelligen Angstzustände erst einmal erkannt, dann kann man vor ihnen nicht mehr einfach die Augen verschließen.
»Is Wissen nich besser?« Das klingt so flehend, so drängend, als verfolge ihn die Frage seit langem und müsse nun einfach ausgesprochen werden. Von einem Vater, vielleicht, einem Vater, den er niemals hatte.
»Gehen Sie schlafen.«
»Verdammt, Paps, können wir nich wenigstens miteinander reden?«
»Wenn Sie jetzt nicht schlafen, denke ich nicht daran, zu bleiben.«
»Biste soweit, daß du Gott verfluchst? Daß du das ganze Leben verfluchst? Als wär' das Leben Gott –«
»Nein«, sage ich ohne Nachdenken.
»Nein?« Wilby regt sich. »Nein? Noch nicht?«
»Noch nicht.«
Müde höre ich, wie er in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen beginnt, fünf Schritte hin,
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