Sonntags bei Tiffany
wäre, wenn er gar nicht da wäre?
Sein Herz zog sich zusammen, sobald er sich seine finstere, schwarzweiÃe, Jane-lose Existenz vorstellte. Doch es wäre die Sache wert, wenn sie weiterleben könnte. Wenn er sie nicht aus der Welt begleitete, würde sie doch bleiben müssen, oder?
Er wusste es nicht, aber in diesem Moment war es alles, was er aufzubieten hatte.
Während er seine Idee durchdachte, sich vielleicht an einen Strohhalm klammerte, begann er, seine Sachen in seine Leinentasche zu werfen. Dann schloss er das Fenster, damit Jane nicht fror. Er blickte sie an und fragte sich: Tue ich das Richtige, indem ich sie jetzt verlasse?
Wird die Sache funktionieren? Sie muss. Jane darf jetzt nicht sterben.
Er verkniff es sich, ihr einen Abschiedskuss zu geben, sie ein letztes Mal zu umarmen, mit ihr zu reden, ihre Stimme
zu hören, weil er sie nicht wecken wollte. Wie konnte er dies schon wieder tun â sie verlassen? Vielleicht weil er keine andere Idee, keine andere Wahl hatte. »Ich liebe dich, Jane«, flüsterte er. »Ich werde dich immer lieben.«
Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich, eilte den Flur entlang und die Treppe hinunter. Um halb sechs würde eine Fähre nach Boston fahren. An der Rezeption hinterlieà er eine Nachricht beim Nachtportier. »Meine Freundin schläft in Zimmer 21. Kann am Morgen jemand nach ihr sehen? Und ihr sagen, dass ich unerwartet abreisen musste, weil ⦠ein Freund krank ist? Sagen Sie auf jeden Fall, es ist ein Freund. Ein Kind.«
Michael marschierte durch die dunklen, leeren StraÃen von Nantucket. Er fühlte sich allein, isoliert und hilflos. Er hatte Mühe, Luft zu holen, was ungewöhnlich war, und seine Beine fühlten sich unglaublich schwer an. Und auf einmal liefen Tränen über seine Wangen. Echte Tränen. Auch eine Neuheit.
Er zog die Windjacke fest um sich und wartete an der Anlegestelle. Das Boot würde in einer halben Stunde eintreffen. Am Horizont schimmerte bereits trübes Sonnenlicht. War dies ein Zeichen der Hoffung?
Es musste Hoffnung geben, weil Jane nicht sterben durfte. Schon bei dem Gedanken daran spürte er einen nicht auszuhaltenden Druck auf seinem Herzen.
Jane darf jetzt nicht sterben.
SIEBZIG
A m nächsten Morgen wachte ich bereits mit einem Lächeln auf und streckte mich ausgiebig. Ich fühlte mich auf glückliche, sichere Art gesättigt, war aber leicht wacklig auf den Beinen â aber nicht vom Sex, sondern von der Liebe, die diesen Sex zu etwas ganz Besonderem machte.
Es ging mir prächtig. Das Sonnenlicht erfüllte das Zimmer, als wollte die Sonne nur für uns scheinen. Als ich mich umdrehte, war ich enttäuscht, Michael nicht neben mir zu sehen. Dieser kleine, dumme Reisewecker auf dem wackligen Nachttischchen zeigte fünf vor neun an. So spät schon?
Was hatten Michael und ich für diesen Vormittag überhaupt geplant? Mal sehen. Wir hatten darüber geredet, noch einmal in einen Antiquitätenladen reinzuschauen. Dort gab es Schnitzereien aus Walzähnen, die Michael gefielen.
Doch zuerst wollten wir in einem Café in der Stadt frühstücken, wo es leckere Blaubeerpfannkuchen gab, auch wenn ich keinen Hunger hatte. Vielleicht weil ich gerade am Abnehmen war und dieses Gefühl genoss. Oder, eher wahrscheinlich, weil ich verliebt war.
Egal, jedenfalls waren wir spät dran. Jeder Tag, den wir
zusammen verbrachten, konnte nicht lang genug sein â wir mussten jede Minute nutzen. AuÃerdem liebte es Michael, zu essen, weil er nie ein Gramm zunahm. Echt fies.
Ich wollte gerade aus dem Bett springen, als mir der Abend zuvor einfiel. Michael hatte über etwas reden, mir etwas sagen wollen. In der Nacht war ich aufgewacht, und Michael hatte sich wieder zu mir gelegt.
Wo steckte er?
»Michael?«, rief ich, bekam aber keine Antwort. »Michael, bist du da? Michael? Mikey? Mike? Hey â du!«
Ich stieg aus dem Bett, schob mir die Haare aus dem Gesicht und blickte mich um. Kein Michael. Er war nirgendwo zu finden.
Auch eine Nachricht entdeckte ich nicht. Ich war schockiert.
Michael hatte versprochen, mich nie wieder zu verlassen. Er hatte es versprochen.
Wortlos presste ich die Hand auf meinen Mund. Das konnte er nicht getan haben.
Andererseits wäre dies nicht das erste Versprechen gewesen, das er gebrochen hatte.
Ich stolperte in mein Zimmer zurück, wo mich das zerwühlte Bett zu verhöhnen
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