Sorge dich nicht - lebe
Hass auf ihre Feinde kannten. Ich bin oft im Jasper National Park von Kanada gewesen und habe einen der schönsten Berge der westlichen Hemisphäre betrachtet – einen Berg, der nach Edith Cavell benannt ist, der englischen Krankenschwester, die wie eine Heilige in den Tod ging. Am 12.Oktober 1915 wurde sie von einem deutschen Erschießungskommando erschossen. Ihr Verbrechen? Sie hatte verwundete französische und englische Soldaten in ihrem Haus in Belgien versteckt, ernährt und gepflegt und ihnen zur Flucht nach Holland verholfen. Als der englische Kaplan an jenem Morgen im Oktober ihre Zelle betrat, um sie auf den Tod vorzubereiten, sagte sie zwei Sätze, die in Granit gemeißelt worden sind: «Ich erkenne, dass Patriotismus nicht genügt. Ich soll nicht hassen noch verbittert sein.» Vier Jahre später wurde ihr Leichnam nach England überführt und in der Westminsterabtei ein Gedächtnisgottesdienst abgehalten. Einmal lebte ich ein Jahr in London. Damals stand ich oft vor dem Standbild von Edith Cavell gegenüber der National Portrait Gallery und las ihre unsterblichen Worte, die dort in den Granit eingemeißelt sind: «Ich erkenne, dass Patriotismus nicht genügt. Ich soll nicht hassen noch verbittert sein.»
Wenn man sich einer Sache verschreibt, die unendlich viel größer ist als man selbst, ist das eine sichere Methode, seinen Feinden vergeben zu können und sie zu vergessen. Beleidigungen und Feindseligkeiten werden völlig unwichtig, weil man nur an sein großes Ziel denkt und für alles andere völlig unempfänglich wird. Als Beispiel möchte ich Ihnen von einem hochdramatischen Ereignis erzählen, zu dem es damals 1918 in einem Kiefernwald in Mississippi beinahe gekommen wäre: einem Lynchmord! Laurence Jones, ein schwarzer Lehrer und Prediger, sollte gelyncht werden. Vor ein paar Jahren besuchte ich die Schule, die Laurence Jones gründete – die Piney Woods Country School –, und hielt einen Vortrag vor den Schülern. Heute ist die Schule im ganzen Land bekannt, doch der Vorfall, von dem ich erzählen will, geschah viel früher. Er geschah während des Ersten Weltkriegs, als die Wellen der Erregung hoch gingen. Wie ein Lauffeuer hatte sich im inneren Teil von Mississippi das Gerücht verbreitet, die Deutschen würden die Schwarzen aufhetzen und zum Aufstand anstiften. Laurence Jones, der Mann, der gelyncht werden sollte, war selbst ein Schwarzer, wie ich schon erzählte, und wurde beschuldigt, dabei geholfen zu haben. Eine Gruppe Weißer, die vor der Kirche stand, hatte gehört, wie Laurence Jones seiner Gemeinde zurief: «Das Leben ist wie eine Schlacht. Jeder Schwarze muss seine Rüstung anlegen und kämpfen, um zu überleben und zu siegen.»
«Rüstung», «kämpfen» – die Weißen draußen vor der Kirche hatten genug gehört. Sie rannten in die Nacht davon, mobilisierten den Mob und kehrten zur Kirche zurück. Sie legten dem Prediger einen Strick um, zerrten ihn ein Stück die Straße entlang, stellten ihn auf einen Haufen Holz, zündeten Streichhölzer an und wollten ihn gleichzeitig hängen und verbrennen, als jemand rief: «Der verdammte Feigling soll noch eine Predigt halten, ehe er brennt. Sprechen! Sprechen!» Und Laurence Jones stand auf dem Holzhaufen, die Schlinge um den Hals, und redete um sein Leben und für seine Sache . Er hatte 1907 an der Universität von Iowa promoviert, und seine Integrität, sein Wissen und seine musikalische Begabung hatten ihn sowohl bei den Lehrern wie bei den Studenten beliebt gemacht. Das Angebot eines Hoteliers, ihn beruflich zu fördern, hatte er abgelehnt und auch den Vorschlag eines wohlhabenden Mannes, ihm seine musikalische Ausbildung zu finanzieren, nicht angenommen. Warum? Weil er von einer Vision besessen war. Booker T. Washingtons Lebensgeschichte, die er gelesen hatte, machte auf ihn einen solchen Eindruck, dass er beschloss, sein eigenes Leben den armen, hilflosen und ungebildeten Menschen zu widmen, die schwarz waren wie er selbst. Deshalb zog er in das unterentwickelteste Gebiet des Südens, das er finden konnte – einen Fleck, 35 Kilometer südlich von Jackson in Mississippi. Er versetzte seine Uhr für 1,65 Dollar und eröffnete seine Schule im Wald mit einem Baumstumpf als Katheder. Laurence Jones erzählte jenen wütenden Männern, die darauf warteten, ihn zu lynchen, von den mühsamen Versuchen, diese wilden Jungen und Mädchen zu unterrichten und zu guten Farmern, Mechanikern, Köchen und Hausangestellten zu machen. Er
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