Sorge dich nicht - lebe
der Bank spekuliert hatte. Schwab stellte das Geld zur Verfügung, damit der Kassierer nicht ins Gefängnis musste. War der Mann dankbar? Ja, eine Zeit lang. Dann wandte er sich gegen Schwab und redete schlecht über ihn und stellte ihn öffentlich bloß, den Mann, der ihn vor dem Gefängnis bewahrt hatte!
Wenn Sie einem Verwandten eine Million Dollar vermachten, würden Sie dann erwarten, dass er dankbar dafür ist? Andrew Carnegie tat das nämlich. Doch wenn er eine Weile später aus dem Grab zurückgekommen wäre, hätte er zu seinem Entsetzen feststellen müssen, dass dieser bestimmte Verwandte ihn verfluchte! Warum? Weil der alte Andy 365 Millionen Dollar öffentlichen Wohltätigkeitseinrichtungen vermacht hatte – und ihn selbst «mit einer schäbigen Million abspeiste», wie der Verwandte sich ausdrückte.
So geht’s im Leben. Die menschliche Natur war immer so, und das wird sich vermutlich auch in nächster Zeit nicht ändern. Warum sich dann nicht damit abfinden? Warum nicht realistisch sein wie der alte Mark Aurel, einer der weisesten Männer, die je das Römische Reich regierten? Er schrieb in sein Tagebuch: «Ich treffe heute Menschen, die zu viel reden – Leute, die egoistisch sind, undankbar. Aber ich werde mich nicht darüber wundern oder beunruhigen, denn ich könnte mir eine Welt ohne sie nicht vorstellen.»
Das klingt vernünftig, nicht wahr? Wenn Sie und ich herumlaufen und uns über die Undankbarkeit der Welt beschweren, wer ist schuld? Ist es die menschliche Natur – oder ist es unsere Unkenntnis der menschlichen Natur? Am besten, wir erwarten keine Dankbarkeit. Wenn sich dann doch einmal jemand bedankt, ist die Freude und Überraschung um sogrößer. Wenn nicht – ist das auch kein Beinbruch.
Hier ist der erste wichtige Punkt, den ich in diesem Kapitel besonders hervorheben möchte:
Es ist nur natürlich, dass die Leute vergessen, sich zu bedanken. Wenn wir also herumlaufen und Dankbarkeit erwarten, machen wir uns nur selbst einen Haufen Kummer.
Ich kenne in New York eine Frau, die ständig jammert, weil sie so allein ist. Keiner ihrer Verwandten will ihr auch nur in die Nähe kommen – und das ist nicht verwunderlich. Wenn man sie besucht, erzählt sie einem stundenlang davon, was sie alles für ihre Nichten getan hat, als diese noch klein waren. Als sie die Masern hatten und Mumps und Keuchhusten, pflegte sie sie. Jahrelang wohnten sie bei ihr. Sie schickte die eine auf eine Handelsschule, und die andere lebte bei ihr, bis sie heiratete.
Am besten, wir erwarten keine Dankbarkeit. Wenn sich dann doch einmal jemand bedankt, ist die Freude und Überraschung umso größer.
Besuchen die Nichten sie? O ja, manchmal, aus Pflichtgefühl. Doch sie hassen diese Besuche. Sie wissen, dass sie dasitzen und sich stundenlang ihre verkappten Vorwürfe anhören müssen, eine endlose Litanei von Klagen und Selbstmitleid. Und wenn es dieser Frau trotz aller Drohungen und Einschüchterungen nicht gelingt, ihre Nichten zu einem Besuch zu bewegen, kriegt sie einen ihrer «Zustände». Sie erleidet einen Herzanfall.
Ist der Herzanfall echt? Durchaus. Die Ärzte sagen, sie habe «ein nervöses Herz», Herzrhythmusstörungen. Aber die Ärzte sagen auch, dass sie nichts für sie tun können – ihre Beschwerden haben emotionale Ursachen.
Was diese Frau in Wirklichkeit braucht, ist Liebe und Aufmerksamkeit. Doch sie nennt es «Dankbarkeit». Und sie wird nie Dankbarkeit oder Liebe bekommen, weil sie sie erwartet. Sie glaubt, sie habe ein Recht darauf.
Es gibt Tausende von Menschen wie sie, Menschen, die aus «Undankbarkeit», Einsamkeit und Herzlosigkeit krank sind. Sie sehnen sich nach Liebe. Aber es gibt nur eine einzige Möglichkeit auf dieser Welt, wie man Liebe bekommt – wenn überhaupt: Man muss aufhören, sie zu fordern, und anfangen, Liebe zu geben, ohne die Hoffnung, dafür einen Gegenwert zu erhalten.
Klingt das nach weltfremdem, schwärmerischem Idealismus? Ganz und gar nicht. Es ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes. Es ist eine gute Methode, wie Sie und ich das Glück finden können, nach dem wir uns sehnen. Ich weiß es. Ich habe es in meiner eigenen Familie erlebt. Meine eigene Mutter und mein eigener Vater gaben aus Freude, weil sie andern helfen konnten. Wir waren arm – und hatten immer Berge von Schulden. Doch trotz unserer Armut schafften es meine Eltern jedes Jahr wieder, einem Waisenhaus etwas Geld zu schicken. Sie haben es nie besucht, und vermutlich hat man ihnen auch
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