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Sorry

Titel: Sorry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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und atmest hektisch, deine Arme sind nach oben gestreckt, die Fingerspitzen berühren die Decke, du spürst, wie dein Gewicht an dem Nagel lastet, der durch deine Hand getrieben ist. Es fühlt sich an, als würdest du von oben nach unten brennen. Du versuchst, deine Atmung zu beruhigen, und siehst hoch. Über dir sind deine zusammengenagelten Hände, unter dir deine Trainingsjacke, deine Beine, deine Turnschuhe. Sie berühren gerade mal den Boden.
    Ich war joggen , denkst du, ich war joggen und dann ...
    Mehr Erinnerung kommt nicht. Der Schmerz in deinen Handflächen zerstört jedes Denken. Du versuchst, reglos an der Wand zu hängen und den Schmerz zu verbannen. Es gelingt dir für dreißig Sekunden, es gelingt dir für eine Minute, dann schlägt der Überlebenswille zu, und du bewegst dich, und die Flammen wandern deine Arme hinunter, und es ist wie sterben und noch einmal sterben und noch einmal.
    Als ob du wüßtest, wie sterben ist.
    Als ob.
    Ruhig.
    Beruhige dich.
    Jetzt.
    Du entspannst dich, du hängst wieder still.
    – Hallo!
    Du willst nicht um Hilfe rufen, du willst nicht betteln, du willst einfach nur bemerkt werden.
    – Hallo, ist da jemand?
    Du horchst auf Schritte, du wartest und blinzelst den Schweiß aus deinen Augen. Es ist unangenehm warm hier unten. Du versuchst, dich zu konzentrieren. Schritte sind zu hören, eine Tür öffnet sich, und dann betritt ein Mann den Kellerraum. Irgendwas an ihm kommt dir bekannt vor, du kannst es aber nicht fassen.
    – Ah, du bist wach, sehr schön.
    Dein Gehirn jagt nach Informationen.
    Woher ... Woher kenne ich ihn?
    Erinnerst du dich wirklich nicht? Joggen, Parkbank, alter Mann ...
    Der alte Mann?
    Du hast es.
    Der Mann setzt sich auf einen Hocker und sieht dich an.
    – Fanni und Karl, sagt er. Warum nur?
    Du willst nicht, aber du lachst los.
    Der Mann legt den Kopf schräg.
    Du hörst auf zu lachen und sagst:
    – Warum? Was ist das für eine Frage? Du bist einer von ihnen, nicht wahr? Was ist das nur für eine Scheißfrage? Ich sag dir, warum. Für alles, was sie mir angetan haben. Darum. Einfach für alles.
    – Und wer bist du, daß du dir erlauben kannst, andere zu verurteilen? will der Mann wissen.
    – Du weißt genau, wer ich bin.
    – Der kleine Lars.
    – Richtig, der kleine Lars.
    Der Mann schüttelt den Kopf.
    – Der kleine Lars würde so etwas nie tun. Nie. Er ist einer von uns, er gehört zu uns. Lars ist mir wie ein Sohn. Wer bist du wirklich?
    Du spuckst aus und triffst ihn an der Schulter. Er sieht dich an, er sieht dich lange an, als könnte er alles durchschauen, was du denkst, was du fühlst. Du mußt dir Mühe geben, den Blick nicht abzuwenden.
    – Du bist jedenfalls keiner meine Söhne, sagt der Mann. Du hast keinen Respekt, und du hast keinen Funken Ehre in dir. Hast du denn noch nicht begriffen, daß wir eine Familie sind, die zusammenhält?
    Du spürst die Galle aus deinem Magen aufsteigen. Familie. Wie kann er es nur wagen? Wie kann er nur ... Du könntest ihm soviel an den Kopf schmeißen, aber alles, was aus deinem Mund herauskommt, ist:
    – Ihr seid eine Gruppe von Päderasten, die sich unschuldige Kinder von der Straße greifen. Ihr seid kranke Gestalten, die Seelen zerstören. Nicht mehr und nicht weniger.
    Der Mann schaut überrascht. Wie kann er überrascht sein? Du wünschst dir, beide Hände frei zu haben. Deine Beine zucken, aber du glaubst nicht, daß du ihn mit einem Tritt erwischen könn test.
    – Päderasten? sagt der Mann, als wäre das Wort ein Insekt, das er nie anfassen würde. Da verstehst du aber einiges falsch. Wir bringen den Kindern etwas bei. Wir sind gut zu ihnen, denn wir lehren sie Gehorsam. Wir fangen sie auf und lehren sie Schmerz. Wie sollen sie in unserer chaotischen Welt ohne Gehorsam und Schmerz überleben?
    Er erwartet ernsthaft eine Antwort von dir. Du bist fassungslos. Wieso redest du überhaupt mit ihm? Was gibt es zu diskutieren? Nichts . Was versprichst du dir davon? Nichts . Es existiert keineBasis. Du könntest einen Stein fragen, warum er ein Stein ist. Du könntest mit dir selbst reden, und es würde mehr bringen. Und wenn du ganz ehrlich bist, interessiert es dich nicht wirklich, was dieser Mann denkt und fühlt und wieso er zu dem wurde, was er ist. Vergiß seine Geschichte, vergiß seine Wurzeln. Geschichte und Wurzeln sind keine Entschuldigung für das Jetzt. Sie machen es nur verständlicher. Wenn du eine bestimmte Grenze überschreitest, dann sind Erklärungen unnötig. Kinder sind

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