Sorry
zittert es.
Weg hier , ruft eine Stimme in Tamaras Kopf. Du mußt nicht sehen, was sich da versteckt. Du weißt, was es ist, warum mußt du es dir ansehen? Was stimmt bei dir nicht?
Tamara schlägt die Decke zur Seite.
Fliegen. Maden. Und das, was einmal die Belzens waren.
Nachdem Tamara sich erbrochen hat, hängt sie über dem Waschbecken und klatscht sich Wasser ins Gesicht, spült ihren Mund aus und atmet in hektischen Schüben. Auf keinen Fall will sie sehen, wer sich hinter der zweiten verklebten Tür befindet. Sie ist sich sicher, daß es der alte Mann ist, der auf das Haus aufgepaßt hat.
Meybach, du krankes Hirn, wie konntest du nur?
Es erklärt sich so vieles. Wieso Meybach wußte, was sie taten. Wieso er so gut informiert war. Er muß uns beobachtet haben. Er hat mit den Belzens über uns gesprochen, und als er sie nicht mehr brauchte, hat er sie umgebracht. Er hat uns die ganze Zeit beobachtet. Auch als die Polizei da war. Die ganze Zeit über. Er hatte nie vor, uns in Ruhe zu lassen.
Im Medizinschrank findet Tamara eine Tube mit Tiger Balsam. Sie schmiert sich einen Streifen unter die Nase, atmet den scharfen Geruch tief ein.
Ich muß Kris sprechen. Ich muß Gerald anrufen, und sollte Gerald nicht dasein, werde ich mit einem seiner Kollegen reden. Ich werde ihm beschreiben, was ich gesehen habe. Ich werde - - -
Eine der Türen aus dem Erdgeschoß schlägt mit einem dumpfen Knall gegen die Wand. Schritte sind zu hören. Die Tür fällt wieder ins Schloß. Ruhe.
Tamara steht reglos im Badezimmer. Sie schaut an die Decke, von der die Lampe hell und klar auf sie herunterleuchtet.
Wer auch immer in das Haus der Belzens gekommen ist, er wird sehen, daß Licht im Bad brennt.
Tamara löscht das Licht und schleicht zur Tür, um sie abzuschließen. Sie hält die Luft an und ist ruhig und still wie die Tür in ihrem Rücken.
Niemand kommt die Treppe hoch.
Tamara atmet behutsam aus, atmet behutsam ein, wünscht sich, sie könnte die Augen schließen, hat die Augen weit offen. Einen albernen Moment lang denkt sie, daß die Belzens genug davonhatten, auf ihrem Bett zu liegen, und nach unten gegangen sind, um sich ein Sandwich zu machen. Tamara unterdrückt ein hysterisches Lachen.
Reiß dich zusammen!
Sie weiß nicht, wieviel Zeit vergeht. Der Schweiß auf ihrem Gesicht ist getrocknet. Es gibt kein weiteres Türknallen. Nur die Stille. Tamara zählt die Sekunden. Bei dreihundert schließt sie die Tür auf und verläßt das Badezimmer.
Der Geruch ist unverändert, der Tiger Balsam hilft kaum. Tamara glaubt, den Gestank der Verwesung im Mund zu schmekken, und unterdrückt ein erneutes Würgen. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, dennoch behält sie eine Hand an der Wand und beginnt, die Treppe hinunterzuschleichen.
Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet.
Vielleicht ist nur die Terrassentür zugeglitten.
Sie erreicht den untersten Treppenabsatz, die Tür zum Flur ist geschlossen, die Terrassentür steht offen. Sie sieht die Lichter der Villa gegenüber.
Wenn ich jetzt losrenne, bin ich in zehn Sekunden am Wasser, und wenn ich erst mal am Wasser bin, dann kann ich innerhalb von wenigen Minuten auf die andere Uferseite schwimmen und - - -
Aus dem Flur sind Schritte zu hören, die Klinke wird runtergedrückt, und die Wohnzimmertür geht auf.
DU
Wie du dich fühlst, möchte jetzt wirklich keiner wissen, jeder kann es sich vorstellen. 600 000 Volt wurden durch deinen Körper gejagt, danach wurdest du auf den Rücksitz eines Autos gelegt, quer durch Berlin transportiert, wieder vom Rücksitz gezerrt und eine Kellertreppe hinuntergeschleppt. Vor dem letzten Treppenabsatz wurdest du fallen gelassen, und der Boden fing dich unsanft auf. Für eine Weile lagst du einfach nur da, und der rauhe Teppich drückte dir sein Muster ins Gesicht. Dein Bewußtsein war blank, so bekamst du auch nicht mit, daß du an die Wand gedrückt wurdest. Du hast nichts gespürt, nichts gerochen, nichts gehört. Und als du gerade dabei warst, aus deiner Ohnmacht zu erwachen, wurde ein Nagel mit zwei Schlägen durch deine zusammengelegten Handflächen getrieben.
Was du weggibst, kommt immer zu dir zurück.
Du schreist aus der Tiefe deines Unterbewußtseins. Du bist wie ein Taucher, dem nur noch Sekunden bleiben, um aus dieser Tiefe zu fliehen. Dein Schreien ist das Seil, an dem du dich aus der Dunkelheit ziehst. Dein Schreien ist dein Leben, zusammengefaßt in einem Atemzug.
Du öffnest die Augen
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