Sorry
auf, sie hilft ihm; auch wenn sie eigentlich nicht will, hilft sie ihm. Er kommt auf die Beine, stöhnt und seufzt, dann versucht er, sie zu umarmen. Frauke weicht zurück.
– Laß uns reingehen, sagt sie.
Fraukes Zuhause ist nicht groß, und wenn er da ist, schrumpft es um die Hälfte. Raum und Zeit. Alles hat mit ihrem Vater zu tun.
– Warst du mal wieder laufen?
– Wonach sieht es aus?
Er streift seine Schuhe ab und marschiert ins Wohnzimmer, als würde er das jeden Tag machen. Frauke hört ihn erneut seufzen, dann ist er still. Auch wenn sie weiß, daß er einen Kaffee erwartet, setzt sie Teewasser auf. Grüner Tee, der nach Heu schmeckt und den sie trinkt, wenn sie sich mit Gesundheit bestrafen will.
– Was soll das werden? fragt er, als sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer kommt. Er hält einen der Ausdrucke hoch. Schwarze Schrift auf weißem Hintergrund. Frauke stellt das Tablett ab und nimmt ihm den Ausdruck aus der Hand.
– Seit wann machst du Traueranzeigen?
Frauke ist froh, einen Blindtext benutzt zu haben, sonst müßte sie ihrem Vater jetzt Fragen beantworten, die sie ihm nicht beantworten will. Sie legt den Ausdruck zurück auf den Schreibtisch. Ihr Leben geht ihn nichts an.
– Neue Arbeit? fragt er.
– Neue Freundin? fragt sie zurück.
– Erst mal einen Kaffee, lenkt ihr Vater ab und geht zum Tablett. Für Sekunden starrt er die Teekanne und die zwei Becher an, als wüßte er nicht, was für eine Funktion sie haben. Frauke kann an seinem Rücken ablesen, daß er angewidert ist. Seine Schultern sind etwas hochgezogen, er sieht albern aus. Er sieht aus wie alle Väter über Fünfzig, die ihr auf der Straße begegnen. Lächerlich und alt.
– Was ist das? will er wissen und riecht am Tee. Hat da eine Kuh reingepißt, oder was?
Frauke schiebt ihn beiseite, nimmt sich einen der Becher und setzt sich aufs Sofa. Sie muß grinsen, obwohl sie es nicht will. Ihr Vater riecht erneut am Tee und läßt seinen Becher stehen.
– Kleines, sagt er und kommt zu ihr. Sein Kopf legt sich in ihren Schoß, und seine Augen schließen sich zufrieden. Er hat immer dieselbe Taktik. Als würde sein Leben auf einer einzigen Bahn verlaufen. Die Gesten, die Worte.
– Ich vermisse euch, murmelt er.
Frauke ist zum Heulen zumute. Es ist ihr Ritual, seit sie vor zehn Jahren von zu Hause ausgezogen ist. Und sie antwortet ihrem Vater immer gleich, denn ob sie will oder nicht, sie ist ein Teil des Rituals.
– Selbst schuld, sagt sie, obwohl sie weiß, daß es nicht seine Schuld ist.
Frauke trinkt ihren Tee, während der Kopf ihres Vaters schwer in ihrem Schoß liegt und die Zeit sich mal wieder gemächlich zu dehnen beginnt.
Gerd Lewin besitzt eine Baufirma und verschiedene Grundstükke im Norden von Berlin, auf denen Mietshäuser stehen. Er hat Anteile an zwei großen Hotels, und halbjährlich wechselt er seine Freundin, die Fraukes Mutter ersetzen soll und nicht ersetzen kann.
Alle zwei Wochen ist Besuchszeit.
Frauke fährt mit der S-Bahn nach Potsdam runter und wartet vor der Klinik, während ihr Vater noch eine letzte Zigarette raucht. Immer hektisch und mit Blick auf die Straße, als würde er die Anwesenheit der Klinik erst im letzten Moment akzeptieren. Erst wenn er die Zigarette auf den Bürgersteig fallen läßt und mit dem Schuh austritt, wird der Backsteinbau mit seinem Park und dem pompösen Eingang für ihn real. Inzwischen hat Frauke auch Lust auf eine Zigarette bekommen, verkneift sie sich aber, weil sie nicht sein will wie ihr Vater.
Tanja Lewin wohnt seit vierzehn Jahren in der Privatklinik. Ihr Leben dort unterscheidet sich kaum von dem Leben, das sie zu Hause geführt hat. Von außen wirkt alles normal, wenn es nicht Zeiten geben würde, in denen Fraukes Mutter regelrecht die Wände hochgeht, ihr Essen erbricht und sich im Kleiderschrank versteckt. Zeiten, in denen sie überall den Teufel sieht.
Wenn man Fraukes Vater fragt, behauptet er, er hätte es kommen sehen müssen. Er wiederholt oft, daß er etwas hätte kommen sehen müssen. Die Krise im Baugeschäft, die Chlamydien, die ihm eine seiner Freundinnen angehängt hat, das schlechte Wetter und natürlich die Mißverständnisse zwischen seiner Tochter und ihm.
Fraukes Mutter rannte das erste Mal an ihrem dreiundvierzigsten Geburtstag davon. Die Polizei griff sie kurz vor Nürnberg auf. Tanja Lewin hatte sich in der Toilette einer Tankstelle eingeschlossen und rief unermüdlich ihren eigenen Namen. Als sie später befragt wurde,
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