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Sorry

Titel: Sorry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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wußte Fraukes Mutter nicht, was genau geschehen war. Sie erinnerte sich, daß sie den plötzlichen Drang verspürt hatte, aus Berlin zu verschwinden. Dann hatte sie einen Filmriß und erwachte auf der Tankstellentoilette – ihre Kehle war wundgeschrien, und zwei Männer hoben sie in einen Krankenwagen.
    Fraukes Mutter kam für zwei Monate in psychiatrische Behandlung. Der nächste Filmriß folgte wenige Tage nach ihrer Entlassung. Fraukes Mutter blieb dieses Mal in Berlin und wurde in der Bettenabteilung eines Möbelhauses festgenommen. Sie erinnerte sich nur daran, daß sie am Nollendorfplatz auf den Bus gewartet hatte. Ein Mann sagte ihr, daß der Bus später kommen würde. Im nächsten Moment war die Bushaltestelle verschwunden, und Tanja Lewin war nackt und klammerte sich in der Bettenabteilung an ein Kissen und wollte wissen, was all die Leute in ihrem Schlafzimmer verloren hätten.
    In dem Möbelhaus zeigte der Teufel sich Tanja Lewin zum ersten Mal. Er kam in Gestalt eines Polizisten und forderte die Leute auf weiterzugehen. Er sammelte ihre Kleidung vom Boden auf und schob sie Fraukes Mutter unter die Bettdecke. Er war nett. Er sprach erst, als sie angezogen war. Er sagte: Ich bin jetzt für immer bei dir. Ich werde mit verschiedenen Gesichtern zu dir kommen, aber du wirst mich immer erkennen.
    Tanja Lewin sollte diese Worte nie vergessen.
    Die Ärzte studierten den Fall Lewin ausgiebig. Sie befragten Fraukes Mutter und gaben ihr Medikamente; sie sprachen mit Fraukes Vater und rieten ihm, seine Frau in eine Klinik einweisen zu lassen. Die Medikamente schlugen zwar an, dennoch sei eine Betreuung rund um die Uhr angeraten.
    Eine Woche darauf unterschrieb Gerd Lewin die Papiere und brachte seine Frau in einer exklusiven Privatklinik in Potsdam unter. Am selben Tag hörte Fraukes Vater auf zu schlafen. Er lag nachts im Bett und starrte die Zimmerdecke an, als würde er darauf warten, daß der Alltag wieder in sein Leben zurückkehrte. Unglaublicherweisefunktionierte er weiter, brachte Geld ins Haus und tat, was er tun mußte, um die Existenz von Frau und Tochter zu schützen. Nur seine Augen verrieten ihn – dunkle, ausgebrannte Höhlen, die Frauke angst machten. Über ein halbes Jahr lang hielt Gerd Lewin diesen Zustand aus, dann stand er eines Abends an Fraukes Bett.
    – Tanja, sagte er, meine Tanja.
    Frauke wußte nicht, ob er sie für ihre Mutter hielt oder nur nach ihr fragte. Sie brachte ihn in sein Schlafzimmer zurück, deckte ihn zu und wollte wieder gehen, da griff er nach ihrer Hand.
    – Bleib.
    – Ich bin nicht Mama, sagte Frauke.
    – Ich weiß, sagte ihr Vater, ich weiß doch.
    Er zog Frauke aufs Bett, so daß sie auf der Seite ihrer Mutter zu liegen kam.
    – Schlafen, sagte er und schlief auf der Stelle ein.
    Es war sein erster Schlaf nach sieben Monaten und sechzehn Tagen. Am nächsten Morgen erwachte er neben Frauke, sah sich überrascht um und begann zu weinen. Er heulte, daß ihm der Rotz nur so aus Nase und Mund lief.
    Auf diese Weise entstand das erste Ritual zwischen Vater und Tochter. Gerd Lewin konnte nicht allein einschlafen, also teilten sie in den folgenden Jahren das Bett miteinander.
    Seit Frauke ihre eigene Wohnung hat, ist ihr Vater wieder in seine Schlaflosigkeit verfallen. Aus diesem Grund taucht er ab und zu bei ihr auf. Wegen der Ruhe, die sie ihm gibt, wegen der mickrigen Illusion, daß seine Frau wieder bei ihm ist und er schlafen kann. Liebe kann grausam sein. Sie läßt einen nicht gehen, sie will Tag und Nacht beachtet werden. Gerd Lewin könnte ein Buch darüber schreiben.
     
    Frauke schiebt ihrem Vater ein Kissen unter den Kopf und steht auf. Sie ist so erschöpft, daß sie nicht mehr klar denken kann. Dennoch setzt sie sich kurz an ihren Mac, konvertiert die Anzeige in eine PDF-Datei und schickt sie per Mail an Kris. Jetzt ist alles richtig. Ihre Arbeit ist getan. Schlaf.
    Als Frauke zehn Stunden später erwacht, ist ihr Vater vom Sofa verschwunden, und Kris hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.
    – Das ist brillant! Wir sehen uns später! Wir müssen feiern!
    Frauke läßt die Nachricht viermal durchlaufen, während sie an der Wand lehnt, einen Fuß auf dem anderen und eine Hand auf den Mund gedrückt, damit das Lachen nicht herausbricht. Sie ist glücklich, sie ist richtig glücklich.
     
    Die Anzeige erscheint eine Woche später in der Zeit und im Tagesspiegel . Sie ist im Stil einer noblen Traueranzeige gesetzt, Tod eines Staatsoberhauptes

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