Sorry
meinem Kopf, sagt Tamara. Es tut mir so leid, daß sie im Kofferraum liegt.
– Da bist du nicht die einzige.
Wolf reicht Tamara sein Glas. Sie nippt, dann stürzt sie den Wodka hinunter. Kris kann die Gänsehaut über ihre Arme wandern sehen. Tamara reibt sich die Augen.
– Was machen wir nur? fragt sie, und es ist ein wenig so, als würde ihre Frage einen Kreis schließen. Keiner hat eine vernünftige Antwort. Wolf klopft auf seinen Schoß, Tamara setzt sich und legt ihren Kopf an seine Schulter. Es ist ein sanftes Bild. Sie schauen in den dunklen Garten und auf den See, der See schaut zurück, die Nacht ist still, fünf Minuten vergehen, dann erklingt ein leises Schnarchen.
– Wolf?
– Ich bin noch wach.
– Gib sie mir.
Kris nimmt Tamara auf den Arm, ihr Atem streicht über seinen Hals, sie ist federleicht. Kris hat keine Mühe, sie nach oben in ihr Zimmer zu tragen. Er legt sie aufs Bett und steckt die Decke um sie herum fest. Wäre sie heute nicht gewesen, wer weiß, was ich Wolf noch alles angetan hätte. Kris beugt sich vor und küßt Tamara auf die Wange. Sie öffnet die Augen und erschrickt nicht, obwohl er Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt ist. Sie wirkt nicht einmal überrascht.
– Hi, flüstert sie.
– Hi.
– Wie komme ich ins Bett?
– Ich habe dich hochgetragen.
– Du siehst traurig aus.
Ihre Hand kommt unter der Decke hervor und berührt seine Wange.
– Mir geht es gut. Schlaf jetzt.
Tamara schließt wieder die Augen. Kris bleibt noch einen Moment an ihrer Seite sitzen und wird das Gefühl nicht los, sich mit der Melancholie seines Bruders angesteckt zu haben.
Als er wieder nach unten kommt, sitzt Wolf nicht mehr im Wintergarten. Kris findet ihn in der Küche mit dem Kopf unter dem Wasserhahn. Er greift an ihm vorbei und dreht den Wasserhahn zu.
– Das hat gutgetan, sagt Wolf.
Kris reicht ihm ein Geschirrtuch. Wolf trocknet sich ab, betastet sein geschwollenes Auge und zieht die Hand schnell wieder weg, dann sieht er auf das Geschirrtuch und sagt:
– Wir sollten es tun. Hier und jetzt.
– Vergiß es. Ich will keine Leiche im Keller haben.
– Ich rede nicht vom Keller.
Wolf sieht zum Fenster.
– Es wäre ideal. Und es wäre sicher.
Kris folgt seinem Blick. Da draußen ist die Nacht, da ist der Kleine Wannsee und ...
– Du kannst sie doch nicht in den Wannsee werfen. Was ist denn daran sicher, du Idiot?!
– Wer redet hier vom Wannsee? Ich will sie in der Nähe behalten, denn wenn wir sie in der Nähe behalten, ist es würdevoll ...
Wolf verstummt. Stille macht sich breit. In der Stille hört Kris das Ticken der Küchenuhr mit einemmal klar und deutlich. Er kann nicht wissen, daß ihn dieses Ticken für eine lange Zeit verfolgen wird. Trocken und berechnend wird es immer wieder erklingen, wenn er an diese Nacht zurückdenkt. Dann lacht Kris los, er lacht und geht zum Kühlschrank. Ihm ist plötzlich nach eiskalter Milch. Die Stille bricht an den Rändern, das Ticken schmerzt in seinem Kopf.
– Du bist so was von betrunken, das glaubst du nicht, sagt er nach dem ersten Schluck.
Wolf schweigt. Kris setzt die Milchtüte wieder an. Wolf nimmt den Blick nicht von seinem Bruder und sagt, daß Frauke und Tamara es nie erfahren müssen.
Sie öffnen die zweite Flasche Wodka, setzen sich wieder in den Wintergarten und diskutieren weiter. Zwei Stunden lang. Irgendwann stehen sie vor der Villa und haben keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen sind. Die Luft ist schneidend kalt und macht sie wach. Betrunken wach ist schlimmer als einfach nur betrunken ,denkt Kris und hält sich an der Schulter seines Bruders fest. Sie sind eindeutig betrunken und wach und entschlossen und stehen vor Wolfs Wagen und schauen fasziniert zu, wie sich die Heckklappe lautlos öffnet.
– Technik, sagt Wolf und hält stolz seinen Autoschlüssel hoch.
Vor ihnen liegt der Schlafsack. Es gibt keine Ausreden mehr. Sie sind sich einig, daß niemand so enden sollte. Niemand. Wolf drückt den Knopf an seinem Autoschlüssel, die Heckklappe schließt sich wieder, und sie nicken zufrieden und lehnen sich mit den Hintern dagegen und versuchen nüchtern zu werden. Es ist kalt, es ist kälter als kalt.
– Ich dachte, wir kriegen den mildesten Winter seit Jahren, sagt Kris.
– Scheiß auf den Wetterbericht!
– Scheiß auf das Wetter! stimmt Kris ihm zu.
Sie verstummen, sie ignorieren die Kälte für eine Weile, dann diskutieren sie weiter.
Um halb fünf machen sie sich an die Arbeit und
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