Sorry
steckt ihr Handy weg, duckt sich und kommt plötzlich auf dich zugerannt. Wie kann sie nur so mutig sein? Nach zehn Metern fliegt ihr die Wollmütze vom Kopf und fällt aufs Eis, der Mantel öffnet sich wie eine schwarze Blüte. Du erkennst ihren entschlossenen Gesichtsausdruck, ihre Arme pumpen im Rhythmus der Schritte, etwas Metallisches schimmert in ihrer Hand.
Sie greift mich an , denkst du und kannst es nicht glauben, sie greift mich ernsthaft an. Die große Frage ist jetzt, was wirst du tun, sollte sie es bis auf deine Seite schaffen? Möchtest du dich auf einen Kampf mit ihr einlassen? Schau in ihr Gesicht, sie ist eine Furie. Du könntest davonrennen und - - -
Ich mache mich nicht lächerlich.
Frauke hat die Seemitte überquert. Sie zeigt kein Zögern, sie hat nur ein Ziel vor Augen. Meter um Meter kommt sie dir näher, ihre Schritte hallen dumpf über die Eisfläche, du glaubst, ihr lautes Atmen zu hören, dann erklingt ein Knall, und der Boden unter Frauke bricht ein. Das Messer fällt ihr aus der Hand und schlittert übers Eis auf dich zu. Frauke versucht, sich am Rand der Einbruchstelle festzuhalten, der Rand bricht, Wasser schwappt aus dem Loch und färbt den Schnee grau, bevor er ihn durchsichtig macht. Du stehst da und siehst zu. Du kannst es nicht leugnen, du bist erleichtert. Etwas wie Mitleid, etwas wie Enttäuschung kommt in dir auf. Du fragst dich, wie sie nur so dumm sein konnte.
Nicht dumm, mutig.
Gut, wie du willst. Aber du weißt hoffentlich, daß die Mutigen fast immer zuerst sterben, oder?
FRAUKE
Der Schock ist nicht nur die Kälte des Wassers, viel größer ist der Schock, versagt zu haben.
Ich war mir so sicher, daß ich es schaffe.
Frauke weiß instinktiv, sie muß den Kopf über Wasser halten, sonst ist es vorbei. Sie greift nach dem Eisrand, der unter ihren Fingern wegbricht. Sie tritt mit den Füßen aus, ein eiserner Ring legt sich um ihren Brustkorb und schnürt die Atmung ab.
Ruhig, nur ruhig, ich werde schon rauskommen und dann ...
Für Sekunden vergißt sie, Wasser zu treten. Sie sieht Meybach klar und deutlich am Ufer stehen. Er ist nicht zurückgewichen. Er hat nicht versucht davonzurennen. Die Fata Morgana hat ein Gesicht.
Ich ... ich kenne ihn, ich ...
Frauke verschwindet unter Wasser, taucht wieder auf, ihre Fingernägel schaben über den Eisrand. Es gelingt ihr, den linken Arm aufzustützen. Müde. Die Kälte macht sie langsam müde. Es fühlt sich an, als wäre ihr Nacken in einer Bärenfalle. Der Schmerz ist paralysierend und fließt ihren Rücken hinunter, Wirbel für Wirbel. Die Müdigkeit ist jetzt überall, sie verlangsamt ihre Bewegungen und läßt den Schmerz in den Hintergrund treten, während der vollgesogene Mantel sie nach unten zieht. Frauke bekommt jetzt auch den rechten Arm aus dem Wasser und stützt sich am Rand ab.
Das Eis hält.
Ausruhen, nur einen Moment ausruhen ...
Da sieht sie, wie Meybach sich abwendet.
– He, wo willst du hin?
Er antwortet nicht, er hört nicht auf sie, er geht weiter die Böschung hinauf.
– Bleib stehen, du ... Hast du etwa Angst? Habe ich dir - - -
Der Eisrand bricht, Frauke ist einen Moment lang unvorsichtig gewesen und hat sich mit dem vollen Gewicht auf den Rand gestützt. Ihr Kopf verschwindet unter Wasser, ihre Nase füllt sich, sie taucht hustend und nach Luft schnappend wieder auf. Etwas Scharfes bewegt sich in ihrem Kopf und durchtrennt die Nerven. Alles wird stumpf und unempfindlich. Das Wasser gefriert auf ihrem Gesicht, und als sie um sich greift, ist kein Eisrand mehr da. Ihre Hände treffen das Wasser und lassen es aufspritzen. Die Raben beginnen zu lärmen. Der See zieht hungrig an Frauke, zieht und zieht sie nach unten, die Müdigkeit ist überall, die Schwere, die Kälte und darüber die Empfindungslosigkeit, die sich wie ein Kokon um ihren Körper und ihr ganzes Wesen legt.
Ruhe, hier ist Ruhe.
Niemand steht mehr am Ufer. Es sind keine Schritte auf dem Eis zu hören. Nur die Sonne schaut durch die Wolken und läßt das Eis aufblitzen. Es ist wie Hoffnung.
Gleich ...
Wärme legt sich auf Fraukes Gesicht. Ihre Hände greifen ins Leere, die Bewegungen werden langsamer.
Gleich ...
Eine Wolkenwand schiebt sich vor die Sonne, der Wind kehrt zurück, die Raben verstummen. Es ist still. Es ist still. Langsam schließt sich das Eisloch wieder.
TEIL V
danach
Hannover liegt hinter mir, und ich habe Kurs auf Osnabrück genommen. Aus dem Kofferraum kommt nur Ruhe. Ich stinke. Ich bin einsam. Ich
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