Sorry
wünsche mir, daß ein Reifen platzt, der Wagen sich überschlägt und alles ein Ende findet. Ich bin einsam, und ich bin auch feige. Ich weiß nicht, was ich hier wirklich tue. Es liegt an mir. Alles liegt an mir. Zuviel Verantwortung, zu viele Entscheidungen. Ich bräuchte nur an den Straßenrand zu fahren. Ich könnte ihm die Nase zuhalten. Ich könnte ihn mit Benzin übergießen. Ich könnte ihn erwürgen oder den Wagenheber so oft auf seinen Kopf fallen lassen, bis er sich nicht mehr bewegt. Ich habe das alles schon in Gedanken durchgespielt. Ihn aus dem Wagen gezerrt und auf die Autobahn gestoßen. Ihn von Brücken geworfen. Ihn vor das Auto gelegt. Ihn ausgelöscht.
Ich lasse es jetzt zu, daß er mit mir redet. Auch wenn ich dachte, ich wäre immun dagegen, will ich seine Geschichte hören. Er spricht, ich höre zu, und sobald ich genug habe, bekommt er das Klebeband auf den Mund, und ich fahre weiter. Ich erkenne die Lügen. Ich denke, ich erkenne die Lügen. Aber ich weiß es nicht. Er hat mir bisher vier Geschichten erzählt. Er ist alles, er ist nichts, er erfindet sich in seiner Angst neu. Ich warte auf den Moment, in dem es klickt und ich ihn durchschaue. Ich will nicht, daß alles, was geschehen ist, wie ein großer Zufall aussieht. Ich hasse Zufälle. Aber genau so läßt er es aussehen. Ein großer, verdammter Zufall. Ich will nicht, daß das Leben meiner Freunde einem Zufall überlassen war. Eher töte ich eine Handvoll Götter. Oder den einen Gott, falls er es wagt, gegen mich anzutreten.
davor
TAMARA
Das Begräbnis findet vier Tage später an einem Donnerstag morgen statt. Die Vögel lärmen in den Bäumen, und vom Erdboden steigt ein Geruch auf, der in seiner Lebendigkeit beinahe schon beschämend ist. So hastig, wie sich der Winter über das Land geworfen hat, so schnell hat er sich auch wieder verzogen. Kein Schnee, kein Eis mehr. Der Frühling triumphiert, und die Sonne ist eine flimmernde, pulsierende Scheibe, die Tamara den Blick senken läßt.
Wieso kann es nicht regnen?
Tamara ist übel. Die Luft ist ihr zu satt und das Licht zu hell. Kris hat einmal gesagt, daß niemand sich von einem Menschen trennen sollte, wenn die Sonne scheint.
Niemand .
Tamara hat das Gefühl, nicht dazuzugehören. Sie steht am Spielfeldrand und wartet auf den Abpfiff. Dieses Gefühl erinnert sie an die Sommernachmittage, die sie mit Frauke auf dem Sportplatz verbracht hat. Zwei Vierzehnjährige, die einer Jungenmannschaft beim Training zusehen. Es waren die langweiligsten Stunden in ihrem Leben und alles nur, weil Frauke und sie den Jungen zeigen wollten, daß sie da sind.
Frauke, wo bist du?
Tamara wünscht sich, ihr Denken würde sich für eine Weile ausschalten. Sie wünscht sich, daß die Erde zittert und die Welt davon Notiz nimmt, daß sie ihre beste Freundin verloren hat. Nach einem Streit, nach einem verdammten Streit. Tamara glaubt jetzt zu wissen, wie Wolf sich gefühlt haben muß, als er Erin tot in der Toilettenkabine gefunden hat. Nichts kann danach mehr geklärt werden. Keine Gespräche, keine Entschuldigungen.
Vorbei.
Tamara fehlt der Mut, nach vorne zu treten. Sie will ihre Händeauf den Sarg legen und so viel sagen, aber sie bleibt an Ort und Stelle und drückt die Knie durch.
Ein anonymer Anrufer hat der Polizei mitgeteilt, daß eine Frau auf der Krummen Lanke in das Eis eingebrochen ist. Innerhalb von zwanzig Minuten war eine Rettungsmannschaft mit Wasserspürhunden vor Ort und machte sich an die Arbeit. Die Krumme Lanke ist ein Fließgewässer, und normalerweise wäre eine Ortung bis zu fünfzehn Metern möglich gewesen, aber die Wassertemperatur und das Eis erschwerten die Suche. Die Hunde hatten keine Chance, eine Spur aufzunehmen, also brach die Rettungsmannschaft das Eis an zwei Stellen in Strömungsrichtung auf. Sie schickten zwei Taucher hinunter, die dem Wasserfluß folgten. Frauke wurde in der Mündung vor der Brücke gefunden. Sie war drei Stunden unter Wasser gewesen.
Fraukes Vater meldete sich am selben Nachmittag in der Villa, nachdem er die Leiche seiner Tochter identifiziert hatte. Wolf nahm den Anruf entgegen, hörte zu, fragte nichts und legte auf, als Fraukes Vater wissen wollte, ob er alles verstanden hätte. Wolf blieb für Minuten einfach nur im Flur stehen und starrte das Telefon an, danach ging er hoch zu Tamara, die hinter ihrem Schreibtisch saß.
– Komm mal her, Tammi.
Tamara blieb am Tisch sitzen. Sie mochte es nicht, wie er da im Türrahmen stand und
Weitere Kostenlose Bücher