SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
Paradoxon des modernen Denkens. Es setzt »Moderne«, den damit scheinbar verbundenen Fortschritt und die daraus ebenso scheinbar resultierende Freiheit als absolute Werte und unterbindet jede rationale Diskussion. Dabei wäre gerade der Begriff der Freiheit in Bezug auf Kinder und ihre Entwicklung immer wieder zu überdenken. Denn was ist eine kindliche Freiheit wert, die mit zunehmendem Alter erkennbar in Unfreiheit mündet?
Genau diesen Effekt haben wir nämlich zu verzeichnen: Im partnerschaftlichen Konzept vom Kind verzichten Erwachsene auf dringend notwendigen Halt für das Kind, sie ignorieren die positiven Auswirkungen von Strukturen für die kindliche Psyche zugunsten eines eher unscharf definierten Konzepts von Freiheit. Das Resultat ist die Unterentwicklung der emotionalen und sozialen Kompetenz, die beim jungen Erwachsenen zu Unfreiheit führt. Er ist unfrei, weil er in seinen Möglichkeiten, sein Erwerbsleben zu gestalten, stark eingeschränkt ist. Die Zusammenarbeit mit Kollegen, egal ob als Vorgesetzte oder als unterstellte Mitarbeiter, wird immer problematisch sein. Er ist unfrei, weil er in menschlichen Beziehungen immer wieder viel stärker dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt ist als gleichaltrige Menschen mit hoher emotionaler und sozialer Kompetenz. Er sieht eigene Schwächen kaum, die Kompromissbereitschaft ist gering.
Vor diesem Hintergrund gilt es, neben der Entwicklung in den Familien und in der Gesellschaft allgemein, die in meinen bisherigen Büchern Schwerpunkt der Betrachtung waren, vor allem die Situation in Kindergärten und Schulen kritisch zu beleuchten.
Schule: Stress für 75 Prozent der Mütter
Über viele Formulierungen in Zeitungsartikeln liest man oberflächlich hinweg und erinnert sich wenig später nicht mehr an sie, selbst wenn der Artikel an sich interessant gewesen sein mag. Manchmal jedoch stolpert man geradezu über einen Satz, weil er so absurd klingt, dass man ihn auch nach mehrmaligem Lesen noch nicht so recht glauben will.
Solch einen Satz fand ich Anfang 2013 in einem Artikel der Welt am Sonntag . Dort stand bereits in den einleitenden Sätzen der Überschrift: »75 Prozent der Mütter fühlen sich durch den Unterricht belastet.« 3
75 Prozent der Mütter? Was stimmt nicht an dem Satz? Sollte man nicht meinen, dass Schule allenfalls bei den Schülern Stress auslöst? Oder, auf andere Art und Weise beziehungsweise aus anderen Gründen, bei den Lehrern?
Nein, hier stand es schwarz auf weiß: Es sind die Mütter , die den Stress empfinden (warum die Väter außen vor bleiben, erklärt die Autorin leider nicht). Sie geraten nach Aussage der Studie »Eltern – Lehrer – Schulerfolg« 4 , auf der der Artikel basiert, »in die Rolle des Hilfslehrers«.
Interessant ist hier vor allem die Tatsache, dass es zwei grundsätzlich unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten dieses Satzes gibt.
Zunächst ist da die Deutung, die die Autoren der Studie und im Zuge dessen auch die Autorin des Artikels nahelegen: Die schulischen Anforderungen, so lautet die Theorie, seien dermaßen hoch, dass die Mütter nachmittags daheim Lehreraufgaben verrichten müssten, weil die Kinder sonst nicht mit dem Lernen des Stoffes hinterherkämen: »Um dem Nachwuchs möglichst gute Startchancen zu verschaffen, setzt das Gros der Eltern vor allem die eigene Zeit ein. Mütter, mehr noch als Väter akzeptieren die Rolle des Hilfslehrers.« Und dann der Killersatz, dass 75 Prozent der Mütter sich durch die Schule belastet fühlten.
Die Schule also, so lautet die Vermutung im Welt -Artikel, ist schuld an der Belastung der Familien, mehr noch: Das ganze Schulsystem. Lernkonzepte und -methoden müssen reformiert werden, die Schüler brauchen mehr Freiheit, dann werden auch die Mütter entlastet.
Das von mir entwickelte Modell der Beziehungsstörungen und ihrer Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche legt hingegen eine andere Interpretation nahe, die den durch die schulische Belastung ausgelösten Druck als Grund durchaus registriert und integriert.
Die Mutter (aber genauso natürlich der Vater), die sich ernsthaft in der Rolle des »Hilfslehrers« sieht, zeigt deutlich, was ich schon an früherer Stelle in diesem Buch als »Symbiose« analysiert und beschrieben habe: Die Mutter nimmt den Druck auf ihr Schulkind ungefiltert als Druck auf sich selbst wahr. Anders ausgedrückt: Psychisch gesehen geht die Mutter für ihr Kind in die Schule, ihre Psyche ist mit der ihres Kindes verschmolzen, sodass
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