SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
überwiegend im Moment, das Leben stürzt scheinbar nur noch auf sie ein, es bleibt kaum Zeit zum Luftholen, das Leben muss immer weiter- und weitergehen. Wobei dieses »weiter« nicht für eine vorausschauende Planung steht, sondern für ein gestresstes »Sich-von-einem-Moment-zum-anderen-Hangeln«, das der Psyche suggeriert, wir befänden uns dauerhaft in einer Katastrophe. Dieser Katastrophenmodus greift nach meiner Beobachtung immer weiter um sich.
Betrachtet man all die genannten Faktoren, so wird nachvollziehbar, warum der Blick für zukünftige Anforderungen an die Kinder von heute verloren geht. Wenn man Eltern fragt, was sie sich für ihre Kinder wünschen, würden sie natürlich immer eine »glückliche Zukunft« als Antwort nennen. Fragt man Lehrer, was sie bei ihren Schülern erreichen wollen, würden sie natürlich immer sagen, dass sie ihre Schüler »fit fürs Leben« machen wollen. Und doch spricht das Verhalten der Erwachsenen immer stärker eine andere Sprache, weil es immer seltener die genannten Ziele auch direkt ansteuert.
Wie vielen Erzieherinnen und Erziehern ist wirklich noch bewusst, dass aus den Kindergartenkindern in wenigen Jahren Schulkinder geworden sein werden und dass der Kindergarten auch der Vorbereitung auf diese Zeit gilt? Wie vielen Erzieherinnen ist dabei klar, dass sie diejenigen sind, die als Bezugsperson für ihre Schützlinge neben den Eltern mit verantwortlich dafür sind, dass die Kinder sich später in der Schule zurechtfinden, mit ihren Mitschülern umgehen und dem Lehrer bei der Stoffvermittlung folgen können?
Wie viele Lehrerinnen und Lehrer sehen wirklich, dass aus ihren Schülern irgendwann Menschen werden, die im Arbeitsleben klarkommen müssen? Und wie viele Lehrer machen sich bewusst, dass ihre Arbeit in letzter Konsequenz auch dafür da ist, die Schüler auf ebendieses Arbeitsleben vorzubereiten?
Hat der Grundschullehrer wirklich im Blick, dass der Schüler vor ihm bald schon auf die weiterführende Schule wechseln wird? Verhält er sich dementsprechend, sodass der Schüler die emotionale und soziale Kompetenz erwirbt, um mit den erhöhten inhaltlichen Anforderungen der nächsten Schule entspannt klarzukommen? Und was auch gefragt werden muss: Dürfen Lehrer sich überhaupt noch so verhalten, dass die genannten Dinge erreicht werden können? Oder zwingt sie der Druck von außen, vor allem auch von »oben«, längst dazu, sich häufig bewusst wider ihre eigentliche Profession und ihre eigenen inneren Überzeugungen zu stellen?
Mir erscheint die Gesellschaft in dieser Hinsicht heute oft blind. Wir sehen künftige Erfordernisse nicht, weil wir schon mit dem Jetzt überfordert sind. Daraus resultiert eine Haltung, die sich in allen Konzepten, Methoden und Denkweisen wiederfindet, welche in den letzten Jahren für die Weiterentwicklung in pädagogischer Hinsicht prägend waren: Wir verlagern die Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder auf unsere Kinder selbst. Unter dem Deckmäntelchen einer partnerschaftlichen Denkweise in der Erziehung verweigern die Erwachsenen in zunehmendem Maße die Verantwortung für die emotionale und soziale Kompetenz folgender Generationen.
Diese Haltung hat nicht nur fatale Folgen für diese und die nächsten Generationen, sie bringt auch die bittere Erkenntnis mit sich, dass der Untertitel, den ich vor fünf Jahren für Warum unsere Kinder Tyrannen werden gewählt habe, immer noch seine volle Berechtigung hat: »Die Abschaffung der Kindheit« schreitet immer weiter voran.
Dabei ist Kindheit die einzige Zeit in unserem Leben, in der wir keine Verantwortung tragen müssen. Das große Ganze regeln die Eltern und anderen Erwachsenen, Kinder müssen keine weitreichenden Entscheidungen treffen und sich für die möglicherweise negativen Folgen rechtfertigen. Die Welt ist überschaubar, Kinder werden geschützt, und unter diesem Schutz ist es ihnen möglich, sich in Ruhe zu entwickeln und nach und nach zu er-wachsen.
Es ist ein Geschenk der Natur, dass Kinder verantwortungslos sein dürfen. Wir ignorieren das heute allzu oft. Wir bürden Kindern Verantwortung auf und glauben, ihnen damit etwas Gutes zu tun. Indem wir sie im partnerschaftlichen Konzept als ebenbürtig definieren und auch so behandeln, nehmen wir ihnen die Kindheit und damit auch die Chance auf eine langsame, gleichmäßige Entwicklung ihrer Psyche – ein Prozess, der gleichbedeutend ist mit der Ausprägung emotionaler und sozialer Kompetenz.
Das ist eben das
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