Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Soucy, Gaetan

Soucy, Gaetan

Titel: Soucy, Gaetan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trilogie der Vergebung 02 - Die Vergebung
Vom Netzwerk:
antun musste, ihre Rolle bis zum Ende spielen, zog sie den Fäustling aus. Drei Finger ihrer linken Hand waren verstümmelt.
    »Ein Unfall«, sagte sie.
    Sie schniefte unbedacht und streifte den Fäustling wieder über.
    Bapaume stand unbewegt wie eine Statue. Seine Gesichtszüge waren eingefroren. Dann wuchs, wie ein Tropfen an einem Eiszapfen, plötzlich eine Träne in seinem Augenwinkel, glitt langsam bis zu seinem Kinn, wurde weiß. Die Orgel und die Gesänge in der Kirche hatten wieder eingesetzt. Mit einer Stimme, die sie nur mit Mühe wiedererkannte, die tief aus den Eingeweiden hervorkam, mit einem Ausdruck, wie er allein Worten zukommt, die man nur einmal in seinem Leben sagen wird: »Ich schwöre Ihnen, Julia, bei all den unverzeihlichen Strafen, die ich Ihnen auferlegt habe, habe ich nie, nicht eine Sekunde auch nur das geringste Vergnügen verspürt.«
    Julia schluchzte trocken, nervös auf, wie in Gelächter. Sie entschuldigte sich, berief sich auf ihre Müdigkeit. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
    Und doch, die Aufrichtigkeit der Worte hatte einen letzten Verdacht von ihr genommen, und sie konnte leichter atmen. Für einen Moment richtete sich ihr Augenmerk auf Dinge jenseits Bapaumes. Das dumpfe und gedämpfte Stampfen der Stiefel im Schnee. Maurice in der Ferne, mit den Pferden und dem Schlitten.
    »Und Sie sind diesen ganzen Weg gefahren, nach zwanzig Jahren, um mit mir darüber zu sprechen … Ich schwöre Ihnen, wenn ich das gewusst hätte …«
    Louis setzte sich neben sie, auf eine tiefere Stufe. Sein Gesicht befand sich auf der Höhe von Julias Schenkeln. Sie war plötzlich nachdenklich.
    »Sie werden sie Carmen nennen.«
    »Wie bitte?«
    »Die Familie Soucy. Das kleine Mädchen, das gerade geboren wurde, sie werden sie Carmen nennen. Wie die Tochter des Küsters.«
    »Ich hatte einen Sohn«, sagte Louis. »Er war zwölf. Er ist im letzten Frühling verstorben.«
    Julia schaute zum Haus der Soucys. Ihre Augen leuchteten, als ginge jemand mit einer Kerze vor ihr her. Die Worte erreichten nicht ihre Lippen, sie fielen auf den Grund ihres Herzens zurück, Totgeburten. Sie ergriff schließlich Bapaumes Hand und legte ihre Wange hinein. Louis’ Hand war warm, behaart, feucht und an den Fingerspitzen eisig, wie eine Hundeschnauze.
    »Meine Frau und ich hatten die Armut in Kauf genommen. Das war der Preis für meine Freiheit. Sie wollte, dass ich an nichts anderes denke als an die Musik. Wir lebten in einer Art glücklich ärmlicher Gleichgültigkeit, wir lebten mit dem Staub, dem modernden Fliegenschrank, mit Feuchtigkeit und Schimmel, der sich in die Ecken setzte. Und dabei ohne jeglichen Sinn für das Wesentliche, die teuersten Liköre neben löchrigen Schuhen, mein Sohn konnte mit sechs Jahren schon Noten lesen, Buchstaben aber erst viel später, ganz nebenbei, er ging kaum zur Schule, er war halt begabt, der kleine Taugenichts. Wir hatten auch Mäuse im Haus, ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle, sie regten mich nicht gerade zu Meisterwerken an, eher erregten sie Angst und Ekel in mir. Wir litten so sehr an Geldnot, dass wir uns nachts bei den Nachbarn in den Schuppen schlichen, um uns Mausefallen zu beschaffen. Natürlich hatte meine Frau ihre Krisen, Anfälle, alles ändern zu wollen, und drei Tage lang wütete ein Wirbelsturm aus Scheuerbürstenund Stahlwolle durch das Haus. Doch dann ging uns die Luft aus, alles begann langsam wieder zu baumeln, zu klappern, zu verfaulen in glücklicher Unschuld. Na, ich will damit sagen, so ist mein Sohn aufgewachsen. Bevor er krank wurde. Dann ging es los, wie ein Paukenschlag. Nichts ist so teuer wie ein sterbendes Kind. Tuberkulose ist nichts für den kleinen Geldbeutel. Wir taten, was wir konnten. Der Gedanke aber lässt mich nicht mehr los, wenn ich vor fünf Jahren die Stelle als Lehrer angenommen hätte … oder wenn mein Sohn in, sagen wir, vernünftigeren, gesünderen Verhältnissen hätte aufwachsen können …«
    »Es ist falsch von Ihnen, sich solche Vorwürfe zu machen«, murmelte sie.
    Sie hielt noch immer seine Hand. Er spürte ihren warmen Atem in der Handwölbung.
    »Ich … ich habe lange Zeit geglaubt, dass diese Prüfung mir von Gott gesandt wurde, um mich zur Ordnung zu rufen, um mich aus der Erstarrung zu reißen, in der ich dahinvegetierte, aus meiner seit zwei Jahren andauernden Unfähigkeit, auch nur das kleinste Musikstück zu komponieren. Darum stürzte ich mich in die Arbeit. Verstehen Sie? Ich

Weitere Kostenlose Bücher