Soucy, Gaetan
bei!«, rief Julia ihm nach, als er sich bereits in der Menge verlor.
Bapaume begnügte sich mit einem abwehrenden Kopfschütteln, so als wolle er vor allen Dingen nicht mehr, dass Gott sich hier noch einmische.
* * *
»So, die Sache ist erledigt«, sagte er zu sich. Aber dann wiederum, was genau war erledigt? Er konnte nicht einmal sagen, dass er erleichtert war, dass sich irgendetwasereignet hatte. Er hatte getan, was er zu tun gehabt hatte, gewiss. Er hatte geredet wie ein Sturzbach, wie er noch nie mit jemandem geredet hatte. Und doch war es so, als wäre nichts geschehen. Er war von jenem Gefühl der Unwirklichkeit, des Stumpfsinns beherrscht, das man bei der Rückkehr von einer Beerdigung verspürt.
Er saß neben Maurice, ihre Ellbogen und Knie berührten sich. Er hatte ihm soeben verraten, dass er das Stück geschrieben hatte, das Bruder Decelles sie im Chor singen ließ, doch der Junge hatte keine besondere Regung gezeigt, vielleicht hatte er es auch nicht geglaubt. Maurice wandte seine Aufmerksamkeit lediglich von den Kruppen der Pferde ab, um sie auf den Horizont zu richten, nach Art eines Seemanns im Ausguck. »Ich bin aber doch nicht vergebens hierhergekommen«, sagte Bapaume zu sich, »all dies muss irgendetwas bedeuten«. Er wähnte sich um Haaresbreite am Ziel, ohne es erreichen zu können. Als wären alle Lichter bereitgestellt und als müsste man nur noch den Schalter finden, auf dass Licht ward. Was hatte Julia ihm sagen wollen? Und warum war Maurice dagegen gewesen, dass sie etwas sagte?
Er beobachtete den jungen von Croft, als könne sich die Antwort in seinem Gesicht verbergen, in diesen Augen schmal wie der Lichtstrahl unter einer geschlossenen Tür. Doch sein Gesicht war Maske, ganz wie bei dem Vater. Der Versuch, daraus zu lesen, war wie die Vertiefung in ein Foto, um jemandes Stimme zu erraten.
»Kanntest du die Tochter des Küsters?«
»Ein bisschen«, sagte er, »nicht mehr als die anderen.«
Er schnalzte mit der Zunge, um die trägen Pferde anzutreiben.
Helle Lichtfäden erhoben sich über den Bergen und ließen in ihrem Tanz das Sternenfeld verschwimmen. Einige Fenster der Schule von Saint-Aldor waren erleuchtet. Bei diesem Anblick verspürte Louis gänzlich unverändert das Gefühl von Erniedrigung, das ihn bei seiner Ankunft am Morgen überkommen hatte. Auf jeden Fall wusste er schon, ehe er sie unternahm, dass seine Tat ihn nicht von ihm selbst heilen würde. Er war mit seinem Ersuchen um Vergebung gewiss nicht hierher gekommen, um sich nachher besser zu fühlen .
»Weißt du, du erinnerst mich sehr an mich, als ich in deinem Alter war. Ich war auch im Internat. Ich habe mich nie beklagt. Meine einzige Zuflucht waren die Stille und die Musik.«
Bapaume schlotterte, jedoch nicht vor Kälte. Er hatte den Eindruck, mit einem Steinhaufen zu sprechen. Wie zu ihm vordringen, mein Gott, über welche Schleichwege an ihn herankommen? Und die Zeit eilte dahin! Ihn überfiel das Verlangen, Maurice an den Schultern zu schütteln. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er einen Handschuh verloren hatte, er wusste weder wann noch wo. Er steckte die Hand in die Tasche und fühlte darin etwas Eisiges. Es war die kleine Glaspyramide, die ihm die Dame aus der Kirche zurückgegeben hatte. Er hatte schon nicht mehr daran gedacht.
»Das ist lustig, du heißt Maurice, wie mein Sohn. Er wäre gestern dreizehn geworden, am 22. Dezember.«
»Hü!«
Die Pferde beschleunigten den Schritt. Sie fuhren den schmalen Waldweg zurück, und wieder fiel, wie am Morgen, der Schnee in weichen, schweren Schollen von denZweigen … Louis würde letztlich sogar so weit gehen und bei dem Jungen mit einer Frage nach der Mutter eine Öffnung erzwingen, auch auf die Gefahr hin, ihm wehzutun.
Eine ganz schlichte Überlegung jedoch hielt ihn davon ab. Bei den von Crofts hatte er keine Spur von Maurices Mutter feststellen können. Kein einziges Bild, kein gerahmtes Foto, keine Erinnerung an sie, nichts! Wie konnte das sein? Und weshalb all die Fotos von ihm an den Wänden und Schränken in Julias Zimmer, wo er doch im ganzen Haus sonst keine gesehen hatte? Das war nicht gerade viel, um daraus Schlüsse zu ziehen, soviel stand fest. Doch die Verbindung dieser beiden Tatsachen erschien ihm plötzlich einleuchtend. Ihn überfiel instinktiv, blitzartig, die irrationale Gewissheit des Spielers, der weiß, dass die Kugel auf seiner Zahl liegenbleiben wird.
Sie erreichten den schmalen Weg, der am Tal entlangführte.
Weitere Kostenlose Bücher