Soucy, Gaetan
Dezember.
»Oh, vielen Dank«, sagte er, als der Offizier ihm Tee ein schenkte.
Louis war gegen zwei Uhr nachmittags am Bahnhof angekommen. Er hatte seit zwanzig Jahren keinen Fuß mehr in diese Gegend gesetzt, und da ihm jeglicher Orientie rungssinn fehlte, so dass er sich verlief, kaum dass er sich drei Straßenecken von seinem Zuhause entfernte, hatte er auch die Weite des Landes falsch eingeschätzt. Er hatte geglaubt, das Dorf Saint-Aldor schließegewissermaßen an den Bahnhof an und er könne sich zu Fuß dorthin begeben. Doch die tatsächliche Entfernung und der heftige Schneefall der vergangenen Nacht machten das Unternehmen riskant, und der Offizier hatte abgeraten. Dessen Ehrerbietung ihm gegenüber erstaunte Louis noch immer. Seine mangelnde Ausstrahlung, seine vollendete Mittelmäßigkeit im Umgang, sein in vollem Bewusstsein vernach lässigtes Erscheinungsbild schienen ihm kaum zuträglich, bei jemandem Sympathie zu erwecken, geschweige denn den Respekt eines eleganten jungen Offiziers, der gerade vom Sieg der Alliierten zurückkehrte. Alles in allem zog Louis es vor, wenn man ihn keines besonderen Blickes würdigte, ja, sich gar nicht um ihn bemühte. Er wusste nicht auf Freundlichkeit zu reagieren. Umso weniger, da diese Freundlichkeit ihm zu Herzen ging und in ihm ein solches Gefühl der Dank barkeit entfachte, dass es an Beklemmung grenzte, ihn all seiner Mittel beraubte.
Der Bahnhofsvorsteher nahm seinerseits in einem der Sessel Platz und fragte mit einer demonstrativen Herz lich keit, die sich um Umgangsformen offenbar nicht scherte:
»Und welchem Beruf geht unser Monsieur Bapaume nach?«
»Welchem Beruf?« wiederholte Louis murmelnd und blinzelte mit den Augen, als schien ihm die Frage ungewöhnlich und als verdiente sie, bedacht zu werden. »Ich bin Organist in der Basilika Notre-Dame von Montréal. Hilfsorganist. Und ich … also, ich komponiere auch.«
Das Lächeln des Offiziers entblößte zwei goldene Zähne.
»Ich hätte drauf wetten können … Auf hundert Schritt Entfernung hätte ich allein an Ihrer Haltung erraten können, dass Sie Musiker sind.«
»Ah.«
»Meine Mutter ist Musikerin. Sie hat Geigenunterricht gegeben, früher, als sie noch in Paris lebte.«
»Das ist ja interessant.«
Nach einer derart hölzernen Erwiderung wusste Louis die Unterhaltung nicht wieder in Gang zu bringen. Belanglose Gespräche dieser Art waren ihm seit jeher ein Mar tyrium gewesen. Reden zu müssen, über geläufige Dinge zu plaudern, großer Gott! Für gewöhnlich begriff sein Gegenüber recht bald und beharrte nicht weiter, was Louis eine bittere Erleichterung verschaffte, in die sich ein Gefühl von Versagen und Scham mischte.
Aber der Bahnhofsvorsteher hätte sich mit einem Regenschirm unterhalten können. Die notgedrungene Einsamkeit auf dem Lande, wo das Dorf Saint-Aldor die einzige Spur von Zivilisation war, entfachte in ihm den bren nen den Drang, sein Herz auszuschütten, einem Geistesverwandten anderes mitzuteilen als Befehle. Er behandelte Louis Bapaume sogleich mit dem stillen Einvernehmen des Mannes von Welt, der, von Bauerntölpeln umgeben, auf Seinesgleichen trifft. Wie stets, wenn man sich an ihn wandte, wurde Bapaume von einem Zucken heimgesucht, das die Muskeln seiner Arme, seiner Beine, seines Rückens befiel, in unvorhersehbaren Wellen, wie Wetterleuchten an einem Sommerhimmel. Und da er allzu sehr damit beschäftigt war, diese Nervosität unter einer ruhigen Oberfläche zu verbergen, achtete er kaum darauf, was man ihm erzählte. Der Militär redete über den Fahrer.
»Chouinard ist einer von diesen Einfaltspinseln, die man nur in eine Uniform zu stecken, mit einer Medaille oder Schelle zu verzieren braucht, um sie überglücklich zu machen und sie mit so tiefer Dankbarkeit zu erfüllen, dass sie Ihnen auf Lebenszeit verbunden sind.«
Es lag keine Verachtung in diesen Worten, allenfalls ein Hauch liebevoller Belustigung, so wie man über einen kleinen Jungen spricht.
»Doch jetzt, wo es danach aussieht, dass wir die nächsten Stunden miteinander verbringen werden, will ich mich Ihnen doch vorstellen! (Ich Banause, dass ich es nicht früher tat.) Oberleutnant Hurtubise. Jacques Hurtubise.«
Louis hob leicht das Gesäß vom Sitz.
»Angenehm. Aber ich muss unbedingt noch heute abend in Saint-Aldor sein.«
Und als bedeute die Präzisierung eine zwingende Pflicht für ihn:
»Ich habe ein Zimmer in der Herberge reserviert.«
Der Oberleutnant Hurtubise schnitt eine
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