Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
»Damit keiner merkt, dass irgendwer im dritten Stock ist.« Dann sieht sie sich flüchtig um, und als sie sicher ist, dass niemand hier lauert, verschafft sie uns mit dem Schlüssel Einlass und drückt die schwere Tür hinter uns zu.
Die Luft im Flur ist stickig, so heiß wie in einem Krankenhaus und komplett ohne Sauerstoff. Wahrscheinlich könnte ich jetzt noch nicht mal tief genug einatmen, um zu schreien, selbst wenn ich wollte.
Aber ich will auch gar nicht. Das wäre verrückt. Sahara hat Meggie mit Sicherheit genauso wenig ermordet wie Tim. Sie sind nur Studenten. Zuschauer.
»Irgendwas ist hier anders«, sage ich und bin überrascht, wie hoch meine Stimme klingt. Dann sehe ich auf den grauen Beton unter meinen Füßen. »Was ist denn mit dem Teppich passiert?«
»Der ist bei der Spurensicherung«, erklärt Sahara. »Krieg keinen Schreck, die haben ziemlich viel mitgenommen.«
Sie steckt den Schlüssel in die Tür von Zimmer A und stößt sie auf. »Nach dir. Wenn du willst.«
Oh Gott, warum habe ich mich bloß von ihr hierherschleppen lassen? Ich will nicht, dass sie hinter mir steht. Sie könnte …
Ich spüre einen harten Schubs im Kreuz und stolpere gegen die Tür, die nun ganz aufschwingt. »Aua.«
»’tschuldige, Alice. Manchmal merke ich einfach nicht, wie viel Kraft ich habe.«
Meggies Zimmer ist komplett ausgeräumt.
Es ist kein Zimmer mehr, sondern eine Zelle – der Boden aus demselben harten grauen Beton wie im Flur, die Wände schmutzig beige, mit helleren Flecken dort, wo ihre Möbel standen und die Pinnwand hing. Wie Geister. Alles Weiche ist fort – die Vorhänge, das Bett, der Teppich. Als ich die Tür zu der winzig kleinen Nasszelle öffne, über die alle Studenten jammern, weil man darin nicht duschen kann, ohne die Klopapierrolle komplett zu durchweichen, sind die Toilette, das Waschbecken und die Plastikwände der Dusche entfernt worden.
Aber es ist nicht die Kargheit dieses Ortes, die mich so trifft. Es ist das Gefühl, das der Raum mir vermittelt.
»Du kannst es auch spüren, stimmt’s, Alice?«
Ich fahre herum. Saharas Blick bohrt sich förmlich in mich, obwohl sie zumindest keine Axt oder ein Kissen oder so in der Hand hat und auch ihre Tasche nicht genug Platz dafür bietet.
Ich schüttele den Kopf. »Was?«
»Wie eine Aura, oder?«
»Nein«, lüge ich. Ihr gegenüber will ich gar nichts zugeben. Selbst wenn sie nichts mit dem Mord an meiner Schwester zu tun hat, scheint sie irgendeine seltsame Art von Befriedigung aus Meggies Tod zu ziehen.
Das Schlimme ist nur, dass Sahara recht hat. Der Raum hat wirklich so etwas wie eine Aura, auch wenn Meggie sich über diesen Eso-Quatsch-Ausdruck kaputtgelacht hätte. Irgendetwas Böses ist in diesem Raum oder zumindest eine tiefe Dunkelheit, trotz der Sonnenstrahlen, die durch das verschlossene Fenster hereinströmen.
Selbst wenn ich nicht wüsste, dass meine Schwester an diesem Ort gestorben ist, könnte ich die vollkommene Abwesenheit von allem, was gut und schön ist, spüren. Aber liegt es an diesem Raum oder an Sahara? Ich versuche, das Gefühl zu deuten, einen Hinweis auf das zu finden, was geschehen ist. Wer es getan hat.
Ich höre Wellen. Die Wellen des Soul Beach. Mittlerweile ist das Geräusch fast beruhigend, weil es immer da ist, sobald ich die alltäglichen Geräusche des wahren Lebens ausblende. Aber ich könnte schwören, über dem Rauschen und Gurgeln des Meerwassers Gelächter zu hören. Ist es Meggie? Nein, dafür klingt es zu grausam. Es muss jemand anderes sein.
»Alice?«
Ich falle, falle durch die Dunkelheit, und obwohl ich verzweifelt versuche, die Augen zu öffnen, ist es, als hätte jemand mein Gesicht mit irgendetwas bedeckt und würde mir dieses Etwas nun fest auf Mund und Nase pressen, sodass ich keine Luft mehr bekomme. Alles ist dunkel und ich schmecke und rieche nur Schwärze, den feuchten, lehmigen Gestank von Erde auf meinem Gesicht und in meinem Haar und …
»Tut mir leid, aber ich muss das machen.«
Plötzlich spüre ich einen Schmerz an der Wange, so heftig, dass ich die Augen aufreiße. Die Dunkelheit und das höhnische Gelächter sind verschwunden und alles, was ich sehe, ist Sahara, die Hand halb erhoben und mit einem entschuldigenden Ausdruck auf dem Gesicht.
»Du hast mich geschlagen!«
»Ist ja nicht so, als würde mir das Spaß machen!«, zischt sie. »Aber du warst mit einem Mal so komisch und bist hin und her geschwankt und dann hast du angefangen, dir das Gesicht zu
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