Soul Screamers 1 - Mit ganzer Seele
gesehen.“
„Oh.“ Natürlich hatte er mich dort schon gesehen. Höchstwahrscheinlich, als er mit einem Mädchen dort gewesen war. „Ja, ich sitze ab 14 Uhr im Kassenhäuschen.“
„Wie wäre es dann mit Mittagessen?“
Mittagessen. An einem öffentlichen Ort würde ich zumindest nicht so schnell schwach werden. „In Ordnung. Aber das bedeutet nicht, dass ich dir vertraue!“
Nash öffnete lachend die Tür. Als die Innenbeleuchtung ansprang, zogen sich seine Pupillen auf Stecknadel-Größe zusammen. Er lehnte sich vor, so als wollte er mich küssen, und mein Herz klopfte wie wild. Doch statt seiner Lippen spürte ich seine Bartstoppeln an meiner Wange, sein warmer Atem strich über mein Ohr. „Das macht es ja so spannend“, flüsterte er.
Mir blieb die Luft weg. Bevor ich auch nur das Geringste erwidern konnte, war Nash aus dem Auto gesprungen und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Im Eiltempo rannte er die Einfahrt hinauf und warf die Tür des anderen Wagens zu.
Wie in Trance legte ich den Rückwärtsgang ein und fuhr auf die Straße. Zu Hause angekommen, hatte ich keinerlei Erinnerung mehr an die Rückfahrt.
„Guten Morgen, Kaylee!“, zwitscherte Tante Val mir aus der Küche zu. Sie trug ihren blauen Satin-Bademantel und hielt einen riesigen Becher Kaffee in der Hand. In der hellen Morgensonne, die durch das Fenster schien, leuchtete der Morgenmantel mit Vals Augen um die Wette. Ihr welliges braunes Haar war vom Schlaf noch zerzaust. Doch bei Valerie sah es immer so aus wie in den Hollywood-Filmen, wenn die Hauptdarsteller komplettgeschminkt in völlig faltenfreien Nachthemden aufwachten.
Meine Haare dagegen waren morgens so verfilzt, dass ich nicht einmal mit den Fingern durchkam.
Der Morgenmantel und die Größe des Kaffeebechers waren die einzigen Hinweise darauf, dass Val und mein Onkel gestern eine lange Nacht gehabt hatten. Oder vielmehr eine sehr kurze. Erst gegen zwei Uhr morgens hatte ich die beiden albern kichernd durch den Hausflur stolpern gehört.
Ich hatte mir gleich vorsorglich die Kopfhörer aufgesetzt. Schließlich hatte ich keine Lust, Zeugin zu werden, wenn mein Onkel seiner Frau bewies, dass er sie auch nach 17 Jahren Ehe noch attraktiv fand. Onkel Brendon war jünger, und meine Tante hasste jedes einzelne Jahr, das sie älter war.
Vals Aussehen war nicht das Problem. Dank Botox und eines strengen Sportprogramms sah sie keinen Tag älter aus als 35. Die Crux war, dass Onkel Brendon extrem jung wirkte. Val machte sich einen Spaß daraus, ihn Peter Pan zu nennen, wie den Jungen aus dem Märchenbuch, der nie erwachsen wurde. Doch als ihr vierzigster Geburtstag vor der Tür gestanden hatte, schien sie ihren Witz plötzlich gar nicht mehr lustig zu finden.
„Müsli oder Waffeln?“ Val stellte den Kaffeebecher auf der Arbeitsfläche ab, kramte eine Packung tief gefrorene Waffeln aus dem Tiefkühlfach und hielt sie hoch. Tante Val war kein Fan von üppigem Frühstück, weil sie mit einer einzigen Mahlzeit nicht zu viele Kalorien zu sich nehmen wollte. Und sie verspürte keine große Lust darauf, etwas zu kochen, was sie selbst nicht aß. Der Rest der Familie durfte sich am Morgen aber so viel Fett und Cholesterin gönnen, wie er wollte.
Normalerweise tischte Onkel Brendon am Samstagmorgen reichlich von beidem auf, doch heute schlief er noch. Sein Schnarchen war durchs halbe Haus zu hören. Der Abend mit Val hatte ihn anscheinend ziemlich erschöpft.
Auf Strümpfen ging ich vom Esszimmer in die Küche zu Val und betrat die kühlen Fliesen. „Toast reicht. Ich bin heute Mittagzum Essen verabredet.“
Tante Val räumte die Packung zurück ins Gefrierfach und reichte mir stattdessen den kalorienreduzierten Vollkorn-Toast, den sie immer kaufte. „Mit Emma?“, fragte sie.
Nachdem ich zwei Scheiben Brot in den Toaster gesteckt hatte, schüttelte ich den Kopf und band die rutschende Schlafanzughose fest.
Tante Val warf mir über den Rand ihres Bechers hinweg einen fragenden Blick zu. „Hast du ein Date? Kenne ich ihn?“ Was sie damit meinte, war, ob es sich um einen von Sophies Ex-Freunden handelte.
„Ich glaube nicht“, antwortete ich knapp. Zu Tante Vals großer Enttäuschung war ich, im Gegensatz zu ihrer leiblichen Tochter, weder Schulsprecherin noch Mitglied des Tanzteams oder im Komitee, das das Kostümfest im Winter plante. Das lag zum Teil daran, dass Sophie mir mit Sicherheit das Leben schwer gemacht hätte, hätte ich in ihrem Territorium gewildert.
Weitere Kostenlose Bücher