Souvenirs
musste. Ich ging zu der Dame, die am Empfang hockte, und erkundigte mich, welches Problem es gab. Ich mochte diese Frau nicht. Sie war um die fünfzig und immer äußerst unangenehm (zwischen den beidenDingen scheint erst einmal kein Zusammenhang zu bestehen). Ständig hatte sie etwas zu meckern. Ein Hauch von 1942 umspielte sie, aber der kalte Hauch von 1942. Sie behauptete, sie könne es kaum erwarten, in Rente zu gehen, und ich hatte Lust, ihr zu antworten, dass sie sich doch am besten gleich hier ein Zimmer nehmen solle. Verrückt, dass eine Frau, die so tief mit dem Wesen des menschlichen Zerfalls vertraut war, den dringenden Wunsch haben konnte, den Lauf der Dinge zu beschleunigen. Ich schob ihre Feindseligkeit auf irgendein Liebesleid, unter dem sie litt, auf ein ungünstiges Sternzeichen, unter dem sie geboren war, und schließlich darauf, dass sie einfach eine dumme Gans war. Was sie nun unter Beweis stellen sollte:
«Es hat einen Suizid gegeben. Eine Neunzigjährige hat sich aus ihrem Fenster gestürzt.»
«…»
«Schade, jetzt müssen wir die Theateraufführung absagen. Heute hätte die Truppe vom Cours Simon kommen sollen. Wissen Sie, da war auch Louis de Funès, beim Cours Simon. Lauter ganz junge Leute. So was Dummes aber auch, die hätte auch morgen aus dem Fenster springen können.»
Das hat sie wirklich gesagt. Und es ist umso bedauerlicher, dass ich mich daran erinnere, da es mir bisweilen passiert, dass mir Verse von Paul Éluard auf der Zunge liegen und nicht einfallen wollen. Warum ist Blödheit denkwürdiger als Schönheit? Ich ging weiter. Abgesehen von diesem törichten Weib schienen alle vom Entsetzen gepackt über das, was sich soeben ereignet hatte. Stille erfüllte die Räume.
Die Sanitäter trugen den Leichnam weg. Hinterher versuchte das Reinigungspersonal tagelang vergebens, die Blutspuren vom Asphalt zu beseitigen, die die Bewohnerin des Zimmers 323 hinterlassen hatte. Die Heimleitung befürchtete eine Kettenreaktion. Ein Suizid löst häufig weitere Suizide aus. Doch das war hier nicht der Fall. Es blieb der einzige Selbstmord, im Augenblick zumindest.
Das Bild dieser Frau, die sich aus dem Fenster gestürzt hatte, ließ mich nicht mehr los. Zu einer solchen Tat gehörte eine ungeheure Überwindung. Manche Menschen erreichen eines Tages eine Schwelle, ab der sie ihr Dasein als nicht mehr lebenswert empfinden. Ich habe Achtzigjährige gesehen, die die Nahrungsaufnahme verweigerten, und daran zugrunde gingen. Das ist eine Art sich umzubringen. Noch ein Mal im Leben den eigenen Willen durchsetzen. Sie kämpften mit den letzten Waffen, die sie zur Verfügung hatten, nämlich den Mund nicht mehr aufmachen, das Gegessene wieder ausspucken und sich freiwillig übergeben. Die meisten Bewohner des Altenheims, die mir begegnet sind, wollten sterben. Sie sprachen dabei nicht vom Sterben, sondern davon, «ihren Frieden zu finden». Oder auch davon, «endlich Schluss zu machen», um ihr Leid hervorzuheben. Denn das Leben scheint kein Ende nehmen zu wollen, das ist das Gefühl, das sie beschleicht. Man redet ja oft von der Angst vor dem Tod, und wie seltsam anders ist das, was ich gesehen habe. Was ich gesehen habe, ist allein das Warten auf den Tod. Und die Angst, dass er nicht kommt.
Ich war darauf gefasst, meine Großmutter vollkommen außer sich anzutreffen. Bestimmt würde sie unseren Ausflug ausfallen lassen wollen? Von wegen, sie stand da, angezogen und abfahrbereit. Und: Sie war sogar parfümiert. Es war unwirklich, sie so zu sehen, so schick gemacht, nachdem ich soeben mit dem Furchtbarsten, was die Menschheit kennt, konfrontiert worden war. Ich fragte sie, ob sie davon gehört habe, und sie sagte Ja. Sie wirkte kein bisschen erschüttert, war im Übrigen ganz mit ihren Vorbereitungen beschäftigt. Um offen zu sein, ich begriff hinterher, dass ihre Wahrnehmung von Zeit eine andere war. Seit drei Tagen hatte sie nur noch diese Beerdigung im Kopf. Das war so, als ob sie ein Licht am Horizont erblickt hätte. Als ob es nun einen triftigen Grund gäbe, die nächsten 72 Stunden herumzubringen. Alles andere zählte in dieser Zeit nicht.
Wir stiegen ins Auto, und ich dachte die ganze Zeit an nichts anderes.
«Kanntest du sie … diese Frau, die sich umgebracht hat?»
«Nein. Sie hat nie ihr Zimmer verlassen.»
«Und man hat sie da drin so sitzen lassen?»
«Sie konnte sich kaum mehr bewegen. Ich weiß nicht, wie sie es angestellt hat, aus dem Fenster zu springen.
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