Souvenirs
hieß, in Gedenken an Anna Karenina. Doch dann sollte er eine andere Frau kennenlernen. Er hätte das nicht für möglich gehalten. Wenn andere Frauen ihn manchmal angesehen hatten, hatte er das zwar gespürt, aber er war unerreichbar. Durch seine offenbar monogame Veranlagung geschützt. Mit Vernunft hatte das alles nichts mehr zu tun, das hätte er sofort merken müssen. Diese Frau, die kürzlich in das Haus, in dem er mit Éléonore wohnte, eingezogen war, diese Frau namens Lise, die seine Lise werden sollte, brachte all die Sicherheiten, in denen er sich wiegte, ins Wanken. Mit Schrecken erinnerte er sich an die Zeit, in der er ein zerrissenes Doppelleben führte. Indem er die eine belog, machte er die andere zur Mitwisserin. Er glaubte, die schlimmste Hölle auf Erden zu erleben: zwei Frauen gleichzeitig zu lieben. Wochenlang marterte er sein Herz, verlor an Gewicht und wusste nicht, wie er aus dieser Falle wieder herauskam. Er konnte Éléonore nicht verlassen. Lise ebenso wenig. Schließlich traf er eine Entscheidung, die Einzige, die sein Inneres zuließ und sich damit unserer Bewertung entzieht: Er beschloss fortzugehen. Frankreich den Rücken zu kehren. Unfähig, sich für eine der zwei Frauen zu entscheiden, verließ er sie beide.
Etliche Monate später kam er zurück nach Hause. Er trat eines Abends ins Wohnzimmer, einfach so. Seine Frau saß da, genauso wie an dem Tag, an dem er sie verlassen hatte, die Zeit ging an ihr vorüber, sie saß ganz still da und war schön so. Ohne große Worte gingen sie zu Bett. Einige Minuten zuvor, als Gaston den Hausflur betreten hatte, hatte er festgestellt, dass Lises Name nicht mehr am Briefkasten stand. Er hörte nie mehr von ihr. Er fühlte sich zu Hause, verstand nicht, warum er sich dieser Prüfung hatteunterziehen müssen, die es nun zu vergessen galt. Das sollte ihm natürlich nicht gelingen. Doch sein Kummer hatte sich endlich verflüchtigt. Mitten in der Nacht knipste Éléonore auf einmal das Licht an. Sie wollte den Mann sehen, der ihr so gefehlt hatte. Teilte sie ihm nun ihren Groll oder Schmerz mit? Nein, sie sagte einfach: «Du bist so schön, mein Lieber.»
15
Mein Vater rief an, um mich um einen Gefallen zu bitten. Eine Freundin meiner Großmutter sei gestorben, und meine Großmutter wolle unbedingt zur Beerdigung. Er selbst konnte nicht mitgehen und hoffte daher, dass ich Zeit hätte. Er fügte an:
«Du würdest ihr wirklich eine Freude machen.»
«Fantastisch, ich fahre hin mit ihr.»
«O danke. Ich leihe dir auch mein Auto …», beeilte er sich hinzuzusetzen, als sei er dennoch bemüht, sich mit technischer Unterstützung an dieser düsteren Aktion zu beteiligen. Nachdem er aufgelegt hatte, ließ ich mir seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen: «Du würdest ihr wirklich eine Freude machen.» Oder auch: «Sie will
unbedingt
hin.» Er hatte recht: Meine Großmutter machte immer ein mürrisches Gesicht, wenn man ihr einen Spaziergang vorschlug, wollte nie ins Museum, weil sie immer zu müde war oder Schmerzen hatte, aber in dem Fall raffte der menschlicheOrganismus sich auf und mobilisierte die notwendigen Kräfte. Beerdigungen entwickeln sich ab einem bestimmten Alter zu den einzigen noch akzeptabel erscheinenden Unternehmungen. Ich kann das nur schwer nachvollziehen. Wird auch mir, wenn der Tod naht, der Sinn danach stehen, mir die Beerdigungen anderer Leute anzusehen? Wird mir der Sinn nicht vielmehr danach stehen, diese Feierlichkeit, die mir bevorsteht, zu meiden? Vielleicht gehen alte Leute deswegen gern zu Beerdigungen, weil sie Angst haben, dass niemand zu ihrer eigenen kommt? Das wäre dann eine unbewusste Art des prophylaktischen Sichrevanchierens. Na ja, das kann eigentlich nicht sein. Ich kann nicht erkennen, dass die Toten im Gegenzug zu ihren eigenen Beerdigungen einladen. Wenn ich zu einer Beerdigung gehe, kann der Beerdigte nicht zu meiner Beerdigung kommen. Diese Beziehung beruht auf Einseitigkeit. Meine Theorie hält nicht stand. Nein, ich verstand tatsächlich nicht, warum meine Großmutter
unbedingt
hingehen wollte. Vor allem, da es sich um keine Freundin handelte, die ihr besonders nahegestanden hatte. Sondern um eine Freundin, die sie immer seltener getroffen hatte und die sie nun überhaupt nicht mehr treffen würde. Am besten würde ich sie wohl mal fragen (letztlich sollten die Umstände so sein, dass ich sie nichts fragte).
Als ich das Altenheim betrat, spürte ich, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein
Weitere Kostenlose Bücher