Souvenirs
wusste jemand, wer das schauderhafte Ding gemalt hatte, noch warum es da hing. Um ästhetische Fragen kümmerte man sich nicht. Mein Widerwille gegen das Gemälde sollte jedocheinen eigenartigen Reflex in mir hervorrufen. Ich blieb bei jedem meiner Besuche stehen und betrachtete es, ich konnte gar nicht anders. Diese Kuh wurde ein Teil meines Lebens. Sie symbolisierte für mich auf immer das Hässliche. Es hat etwas Faszinierendes, die Hässlichkeit so vor sich zu haben wie einen Zielpunkt am Horizont, dem man sich unter keinen Umständen annähern darf. Ich könnte auch mein ganzes Leben damit verbringen, vor dieser Kuh zu flüchten.
Meine Großmutter teilte meine Obsession, und der geteilte Abscheu brachte uns zum Lachen. Wenn ich an manchen Tagen spürte, dass es ihr schlecht ging oder dass sie unglücklich war, beugte ich mich zu ihr vor und flüsterte: «Besuchen wir die Kuh? Hast du Lust? Gute Idee?» Und meine Großmutter lächelte. Wer dieses Bildnis auch angebracht haben mochte, er war letztlich ein brillanter Geist. Er hatte begriffen, dass man durch Zurschaustellung des Hässlichen die Hässlichkeit überwinden kann. Man durfte uns diese Kuh nicht mehr wegnehmen. Wir hatten so viel Spaß mit ihr. Meine feinsinnige Großmutter war empfänglich für elegante Formen und hatte ein ausgeprägtes ästhetisches Empfinden. Im Übrigen ist sicher sie diejenige gewesen, die mir die Art von nötigem Geschmack an Wörtern vermittelt hat. Sie sagte oft zu mir:
«Man müsste im Alter von viel mehr Schönheit umgeben sein. Oder vielleicht sollte ich eher sagen, man müsste sich durch die Schönheit von der Last des Alters befreien können.»
«Wie wahr …»
«Man müsste schönen Menschen begegnen, schöne Landschaften sehen, schöne Bilder. Ich habe in meinem Leben so viel Schreckliches gesehen. Warum muss ich jetzt den Niedergang der anderen mit ansehen?»
Was sollte ich darauf sagen? Sie hatte recht. Bei jedem Schritt trafen wir auf Männer und Frauen, denen es schwerfiel, sich zu artikulieren, sich fortzubewegen oder eben auch ihre Bedürfnisse unter Kontrolle zu halten. Ständig wurde man angesprochen von Leuten, die einen um eine Zigarette baten oder ums Telefon, damit sie einen Verwandten anrufen konnten. Man hätte das Altenheim leicht für ein Irrenhaus halten können. In der Menge der Verkommenden gab es einen Mann, der es mir besonders angetan hatte. Ich wusste sogar, wie er hieß: Monsieur Martinez. Bei seinem Vornamen bin ich mir allerdings nicht ganz sicher: Gaston Martinez vielleicht, oder Gilbert. Na ja, nicht so wichtig. Er war nicht zu verfehlen: Er stand an der immergleichen Stelle im Gang und neigte den Kopf, den lieben langen Tag. Zum Schutz vor der Schleimspur, die von ihm herabhing, hatte ihm jemand eine Serviette umgehängt. Ich hatte mir angewöhnt, ihm guten Tag zu sagen, aber er antwortete nicht. Der Pfleger stellte ihn am Abend in sein Zimmer zurück. Monsieur Martinez war diskret und vollkommen abwesend, kaum vorstellbar, dass er noch am Leben war. Er hatte so gut wie nie Besuch. Ich fragte mich, woran er wohl dachte und ob er überhaupt dachte.
Ich hatte begonnen, mir die Heiminsassen anzuschauen. Sie mir ganz genau anzuschauen. Sie nicht als Randfiguren zu betrachten, sondern als Männer und Frauen, die auch einmal ein anderes Leben gehabt hatten. Die die Post aus dem Briefkasten geholt hatten, die keinen Parkplatz gefunden hatten, gelaufen waren, um nicht zu spät zu einer wichtigen Verabredung zu kommen, die Liebeskummer und freudige Augenblicke erlebt hatten, die sprachlos waren, als der erste Mensch auf dem Mond landete, die aus Angst, früh zu sterben, zu rauchen aufgehört hatten, die sich mit Freunden zerstritten und wieder versöhnt hatten, die auf einer Italienreise ihr Gepäck verloren hatten, die es nicht hatten erwarten können, endlich volljährig zu sein und so weiter. Ich hatte nur diesen einen Gedanken: Sie waren einmal so alt wie ich gewesen. Und einmal werde ich so alt sein wie sie. Hier begegnete ich dem, der ich einmal sein würde.
Um die Thematik des Hässlichen abzuschließen, noch ein Wort zu den Mahlzeiten. Die Mahlzeiten waren für meine Großmutter die schlimmsten Momente des Tages. Sie saß zwei Mal am Tag (denn Frühstück gab es auf dem Zimmer) einer Frau gegenüber, deren Anblick ihrem Appetit Abhilfe schaffte. Welchem Appetit überhaupt? Die Gerichte waren immer die gleichen: «Es entsteht der Eindruck, dass sie unterschiedlich sind, aber in
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