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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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Meiner Ansicht nach muss ihr jemand dabei geholfen haben.»
    «Meinst du das im Ernst?»
    «Ich weiß es nicht, mein Lieber. Ist nur das, was ich denke. Mir kommt die Geschichte merkwürdig vor, sonst nichts.»
    Sie sprach mit größter Gleichgültigkeit. Dabei wusste ich besser als jeder andere, wie feinfühlig und liebenswürdig sie war. Ich setzte den Weg schweigend fort. Nach einer Weile schaute sie das Autoradio an und fragte, ob ich nicht Musik anmachen könnte. Es lief zufällig ein Lied von Serge Gainsbourg, J
e suis venu te dire que je m’en vais,
das Lied, das sich von Jane Birkin als Vorbote einer anstehenden Trennung hätte interpretieren lassen, das in Wirklichkeit aber der Bote einer Zeit war, die bald der Vergangenheit angehören würde: «Tu te souviens des jours anciens et tu pleures.» In dieser Melodie, in den von Verlaine inspirierten Worten lag unendliche Traurigkeit und Schönheit. Infolge des Schocks vom Morgen traten mir die Tränen in die Augen. Es war sehr lange her, dass ich das letzte Mal geweint hatte. Die Melodie löste größere Gefühle aus als andere Momente, mit denen wahrlich schwieriger fertig zu werden war, wie etwa die Beerdigung meines Großvaters, bei der ich nicht geweint hatte. Dass meine Großmutter mich in einem solchen Zustand sah, war ausgeschlossen. Absurd, jetzt zu weinen, ich fuhr mit ihr gerade zu einer Beerdigung. Allmählich kamen mir überhaupt recht viele Dinge absurd vor.
    In meiner Erinnerung sollte dieses Lied für den Rest meines Lebens mit jenem Augenblick verknüpft sein. Ich höre es manchmal zufällig auf der Straße oder wenn ich bei jemandem zu Besuch bin, bei unterschiedlichen Gelegenheiten, und schon sehe ich mich wieder im Auto sitzen, unterwegs zum Friedhof. Das Eigenartige dabei ist: Das Lied ist derart tief in mir verankert, dass ich mich auch an all die anderenAugenblicke erinnere, in denen ich es seither gehört habe. So tauche ich bei jedem Hören in eine Matroschka der Erinnerung ein, in deren Innerem alles durcheinanderwirbelt, das eine nicht zum anderen passt, das Süße sich mit Saurem vermischt, bis ich schließlich zu der allerkleinsten Puppe vordringe, die zuunterst sitzt: zur ursprünglichen Erinnerung an die Autofahrt (bei der ich nun angekommen bin).

16
Erinnerungen von Serge Gainsbourg
    Le Divan
ist eine französische Fernsehsendung, die von Henry Chapier ins Leben gerufen und am 4. April 1987 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Das Konzept sah vor, dass sich eine bekannte Persönlichkeit auf einen Diwan legt und dort im Stil einer Psychoanalyse interviewt wird. Am 20. September 1989, wenige Monate vor seinem Tod, gab Serge Gainsbourg ein Interview. Er weigerte sich allerdings, sich auf den Diwan zu legen, und schob scherzhaft folgenden Grund vor: «Ich lege mich schon gern hin, aber doch nicht allein.» In der Sendung erzählte er von seinen Erinnerungen. Insbesondere von Erinnerungen an seine Kindheit. Sein Vater, ein russischer Einwanderer, verdingte sich als Pianist in den Bars und Tanzlokalen. Er machte den kleinen Lucien (so Gainsbourgs richtiger Vorname) mit dem Klavier vertraut. Laut Gainsbourg war dies die beste Schule. Jeden Tag hörte Sergeseinen Vater spielen. Im Interview erwähnt er Stücke von Bach, Chopin, Etüden und Präluden, aber auch die von Cole Porter oder Gershwin. Seine bedeutsamsten Kindheitserinnerungen sind also Erinnerungen an Klänge, und er beschließt seine Darstellung mit diesem ausgesucht schönen Satz: «Jeden Tag spürte ich, wie warnende Vorzeichen meiner Zukunft mitschwangen.»

17
    Wir gingen die Friedhofsalleen entlang. Ab und an machte meine Großmutter halt vor einem Grab, und ich dachte mir: Sie schaut sich diese Gräber an, so, wie sich ein junges Pärchen eine Musterwohnung anschaut. Ich konnte den Gedanken nicht beiseiteschieben, dass ich sie bei meinem nächsten Friedhofsbesuch wohl nicht begleiten, sondern anlässlich ihrer Beerdigung kommen würde. In diesem Augenblick war ich hundert Mal trauriger als sie. Und wahrscheinlich hatte ich noch ganz gerötete Augen. Geradezu stürmischen Schrittes näherte sie sich der Stelle, wo die Trauerfeier stattfand. Wir erreichten eine kleine Gruppe von Menschen. Eine wirklich sehr kleine Gruppe. Kaum mehr als zehn Personen. Und das freilich verlieh dem Grauen dieses Tages den letzten Schliff. Ich fand es schaurig, an einem Begräbnis teilzunehmen, das wie ausgestorben war. Ich sehnte mich danach, umgänglicher zu werden, jede Menge neuer

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