Souvenirs
Beileidsbekundungen.
Meine Großmutter flüsterte mir ins Ohr, dass sie müde sei. Sie wollte zurückfahren, jetzt gleich. Der Plan, die jungeFrau anzusprechen, fiel ins Wasser. Im Grunde kam mir das sogar entgegen. So musste ich nicht einräumen, dass mir der Mut fehlte. Wir verließen langsam den Ort der Trauerfeierlichkeiten. Ich wandte mich von Zeit zu Zeit im Gehen um, und stellte jedes Mal fest, dass sie nicht aufhörte, mich zu beobachten. Je weiter ich mich von ihr entfernte, desto schöner erschien sie mir. Und desto mehr Frust sammelte ich an. Einen flüchtigen Augenblick dachte ich an die Anekdote meines Vaters, die ich schon tausendmal gehört hatte, wie er meine Mutter kennengelernt hatte, wie er auf sie zugegangen war und gesagt hatte: «Sie sind so schön, dass ich Sie nie mehr wiedersehen will.» Ich dachte mir, ich könnte hingehen zu dieser Frau und zu ihr das Gleiche sagen. Nein, das war ja absurd, vollkommen absurd, denn ich wollte nur eins: sie wiedersehen. Verhindern, dass sie sich in die traurige Kategorie all jener Frauen einreihte, mit denen man vielsagende Blicke wechselt oder die ein Lächeln erwidern, in die Kategorie, bei der man sich denkt, da hätte sich etwas ergeben können, und die am Ende in der fatalsten Unterkategorie landet: der der Reue. Nein, ich wollte verhindern, dass auch sie sich in diese Rubrik einordnete. Aber was sollte ich tun? Ich musste mich entscheiden: ein guter Enkelsohn zu sein oder die Frauenwelt zu erobern. Damit beschäftigten sich meine widersprüchlichen Gedanken, bis wir das Auto erreichten.
Das Gesicht dieser Frau und ihr Lächeln, der Lichtblick an diesem vom körperlichen Verfall gezeichneten Tag, sollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Ich fragte mich, wie ich eseinfädeln könnte, sie wiederzusehen. Und dann kam mir eine Idee. Es gab einen Weg. Und zwar den, so oft wie möglich in stiller Andacht am Grab dieser Freundin meiner Großmutter zu stehen, in der Hoffnung, dass die junge Frau auf den gleichen Gedanken käme. Niemand würde am Grab von Sonia Senerson so viele Blumen niederlegen wie ich.
18
Sonia Senersons Erinnerungen
Sonia hatte einen Mann mit russischen Wurzeln geheiratet, und diese Wurzeln lenkten sein Geschick. So beschloss er 1941, Frankreich zu verlassen, um sich den Truppen der Roten Armee anzuschließen. Sie versuchte, ihn davon abzubringen, doch das war vergebliche Liebesmüh. Sie sollte nie wieder etwas von ihm hören und fand sich mit der gemeinsamen Tochter allein wieder.
Die Jahre gingen vorüber, und sie richtete sich ein in einem Leben ohne ihn. Sie investierte all ihre Energie in ihre Leidenschaft für den Tanz, gab ihr ganzes Herz dafür hin. So wurde sie zu einer überdurchschnittlichen Künstlerin, die in zahlreichen Ballettensembles ihre Eleganz ausstrahlte. Ihr Ansehen wuchs über die Grenzen Frankreichs hinaus, sodass sie schließlich eine Einladung nach Russland erhielt. Mitten im Kalten Krieg, also zu einer Zeit, in der niemand nach Russland wollte. Aber sie verstand es,im ganzen Ensemble Lust auf dieses Gastspiel zu wecken. Sie träumte von Moskau, davon zu erfahren, was aus ihrem Mann geworden war. Die Aufführungen gerieten zu einem echten Triumph. Sie erwirkte ein Treffen mit einem hohen Funktionär, der versprach, Nachforschungen bezüglich des Verbleibs ihres Mannes anstellen zu lassen. Schon tags darauf ließ er ihr eine Anschrift übermitteln. Am Abend konnte sie sich kaum auf das Tanzen konzentrieren. Ständig musste sie an diese Adresse denken. Ihr Mann war also noch unter den Lebenden. Sie stellte Hunderte von Mutmaßungen an, an erster Stelle freilich die, dass er eventuell wieder geheiratet haben könnte. Beim Applaus rannen ihr Tränen in Hülle und Fülle über die Wangen, was man auf ihr hohes Maß an künstlerischer Empfindsamkeit zurückführte.
Sie bat einen Tänzer der Truppe, sie zu der besagten Adresse zu begleiten. Zehn quälende Jahre der Ungewissheit würden nun zu Ende gehen. Es war so weit, der Wagen parkte vor einem kleinen Haus in einer Moskowiter Vorstadt. Im Flur suchte sie an den Briefkästen nach seinem Namen, aber in Russland standen damals keine Namen auf den Briefkästen. Ganz vorsichtig stieg sie die Treppen hoch und drückte dann auf die Klingel. Eine Frau öffnete ihr, fragte, was sie wolle. Eine Frau, das war also die Ursache. Doch nachdem Sonia kurz mit leerem Blick umhergesehen hatte, fiel ihr auf, dass die Frau viel zu alt war. Das konnte unmöglich seine neue
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