Souvenirs
Freundschaften zu schließen (nach Möglichkeitmit Leuten, die jünger waren als ich). Derweil sollte ich erfahren, dass die Frau, die der Grund unseres Kommens war, Sonia Senerson, eine recht bekannte und immer von Menschen umgebene Tänzerin gewesen war. Doch die meisten ihrer Freunde waren tot, die restlichen waren nicht mehr in der Lage, den Weg anzutreten. Sie starb im fortgeschrittenen Alter, demnach war nur die nahe Verwandtschaft da. So ist das. Je später man stirbt, desto einsamer ist man am Tag seiner Beerdigung.
Sonias Kinder und Enkelkinder waren entzückt, uns kennenzulernen. Das heißt, «entzückt» ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck, sagen wir, sie freuten sich, dass auch eine von Sonias Freundinnen gekommen war. Ich weiß noch, da war eine junge Frau, die mich permanent ansah. Und ich fürchte, ich sah sie auch an. Eigentlich muss man sagen, wir sahen uns an. Seltsam, wie sich an dem vom körperlichen Verfall bestimmten Tag plötzlich neue Möglichkeiten auftaten, die alles in einem anderen Licht erscheinen ließen. Die Trauer trieb meine Lebenslust an, ich war sogar einer gewissen Ekstase nahe. Das Haar dieses Mädchens war lang und das Leben kurz. Es braucht einen nicht zu erstaunen, wenn im Dunstkreis des Todes sexuelle Energien freigesetzt werden. Mehr als einmal sollte ich Gelegenheit haben, mir diesen Zusammenhang klarzumachen. Doch diesmal, dieses erste Mal war ich ebenso befangen wie erregt. Einige Minuten zuvor war mir das Leben unheimlich jämmerlich erschienen, und nun wandelte ich auf einem Pfad, der von erotischen Überraschungen gesäumt war. Ich wagekaum, es mir einzugestehen, aber ich glaube, ich flirtete ein bisschen bei dieser Beerdigung. Ein orthodoxer Priester (ach, das hätte meiner Mutter gefallen) stellte die wichtigsten Stationen aus dem Leben dieser mir unbekannten Frau dar, und obwohl ich die ganze Zeit auf das Mädchen achtete, schnappte ich doch den einen oder anderen biografischen Brocken auf. Er zählte ihre Glanztaten auf, wie hervorragend sie den
Schwanensee
interpretiert hatte, während wir an ihrem Grab standen, zu ihrem auf immer reglosen Körper hinabsahen, angesichts dessen uns nichts Besseres einfiel, als ihre angeblich legendären Entrechats zu rühmen. Ich fragte mich, wie ich es anstellen würde, an die Telefonnummer des Mädchens heranzukommen; es war unwahrscheinlich, dass sie mir noch einmal über den Weg laufen würde; wir hatten keine gemeinsamen Freunde, und der dünne gesellschaftliche Faden, der uns verband, war durch den Tod von Sonia Senerson gerissen. In dem Augenblick hatte ich nur Gedanken dafür. Das Schicksal der Frau, die sich am Morgen quasi vor meinen Augen das Leben genommen hatte, berührte mich nicht mehr. Alles ging so schnell vorüber. Und dennoch, die augenblickliche Realität stellte sich folgendermaßen dar: Eine tote Frau sank in einem verschlossenen Sarg und in ein Leichentuch gewickelt in eine Grube.
Die Gemeinde verharrte einen Moment in Schweigen. Die großen Gefühle blieben aus; dieser Tod war für niemanden überraschend gekommen. Es war eher eine Art Sanftmut zu spüren, eine Art zärtlicher Milde sogar. Die Tochter der Verstorbenen, die ich auf über siebzig schätzte, kam auf unszu. Und ich verstand nicht gleich, weshalb sie zu mir sagte:
«Es rührt mich, dass Sie so ergriffen sind, junger Mann.»
«Ja … ja … mein ganz herzliches Beileid, Madame …»
Ich hatte vollkommen vergessen, dass ich zu Beginn einige Tränen vergossen hatte. Meine Augen trogen, was die Herkunft meiner Gefühlsregungen betraf. Aber was soll’s. Man hielt mich eben für ein sensibles Kerlchen. Die Frau wandte sich dann an meine Großmutter:
«Wissen Sie … meine Mutter hat mir viel von Ihnen erzählt …»
«Mir hat sie auch viel von Ihnen erzählt.»
«Außerdem meine ich, war sie auch ganz begeistert von Ihrem Mann. Nach all dem, was ich gehört habe, muss das ja eine äußerst imposante Erscheinung sein!»
«…»
Ich glaube, meine Großmutter hätte gern eine Antwort parat gehabt, aber sie brachte keinen Ton über die Lippen. In dieser Pause, die entstand, begriff ich, wie allgegenwärtig ihr Mann immer noch in ihren Gedanken war, wie schmerzvoll es für sie sein konnte, wenn man ihn bloß erwähnte. Schließlich murmelte sie, ohne übermäßig tragisch zu wirken, dass die imposante Erscheinung tot sei. Die Frau machte eine betont zärtliche Geste, es tat ihr leid. Wir drehten uns im Walzer der
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