Souvenirs
Aktionen wohnte ein Schuss Verzweiflung inne, denen jegliches Maß und Ziel fehlte. Ich hatte die Idee, im Umkreis des Altenheims Zettel aufzuhängen, wie man es bei entlaufenen Katzen macht. Zu diesem Zweck kramte ich nach einem neueren Foto von meiner Großmutter, aber alle jüngeren Aufnahmen zeigten sie mit Geburtstagstorte oder bei sonst irgendeinem feierlichen Anlass. Es kam mir grotesk vor, mit einem solchen Bild das Verschwinden einer Person bekannt zu machen. Aber egal, ich hatte keine Wahl und vor allen Dingen keine Zeit, mich mit derartigen Betrachtungen aufzuhalten. Ich schrieb das Datum und die mutmaßliche Uhrzeit, zu der meine Großmutter verschwunden war, auf das Blatt. Jedes Mal, wenn ich eins aufhängte, spürte ich die Blicke, die sich auf mich richteten. Man saß über mich zu Gericht. So etwas hatte man bestimmt noch nie gesehen. Und anstelle von Sympathie schlug mir überwiegend Aggression entgegen. Als wäre eine Suchanzeige zwangsläufig an ein Schuldeingeständnis geknüpft. In den Augen der Passanten nahm ich die Gestalt eines Enkels an, der seine Großmutter schlecht behandelt hatte und sich jetzt, da sie weggelaufen war, blöde vorkam. Auf dem Zettel stand meine Telefonnummer für jeden, der eventuell in der Lage war, weitere Auskünfte zu erteilen. Niemand sollte meinen gewiss etwas theatralischen Versuch, auf diesem Weg eine alte Frau wiederzufinden, besonders ernst nehmen. Innerhalb von wenigen Stunden erhielt ich alle möglichen Anrufe. Kichernde Teenager (am Klang ihrer Stimme konnte ich mir ihre Pickel ausmalen), die erklärten,
die Alte abgemurkst
zu haben; aber auch Leute, die sich die Zeit vertrieben und mir irgendwelche Fragen stellten, wo auf der Hand lag, dass sie mir nicht weiterhelfen konnten. Ich hatte sogar einen Journalisten von
France-Soir
am Telefon, der die Geschichte immerhin originell fand und in Erwägung zog, einen Artikel darüber zu schreiben. Medienecho mochte freilich hilfreich sein, aber mich erschreckte der Gedanke, meine Großmutter in die Lokalnachrichten zu bringen. Ich schlug das Angebot aus. Und sprechen wir lieber gar nicht erst von all den alten Schachteln, die behaupteten, eine Freundin meiner Großmutter zu sein, angaben, ganz genau zu wissen, wo sie sich aufhielt,
natürlich weiß ich das, warten Sie, gleich fällt’s mir wieder ein,
und dann fiel ihnen natürlich nichts ein, weil sie überhaupt keine Ahnung hatten. Nach dem lächerlichen Rummel dieses Tages sah ich mich gezwungen, die Operation am Abend rückgängig zu machen. Als ich die Zettel wieder abnahm, kommentierten einige Leute: «Na ausgezeichnet! Das heißt, Sie haben sie gefunden?» Und ich murmelte leise Nein.
Am klügsten war es sicherlich, mit den Nachforschungen im Altenheim zu beginnen. Die anderen Bewohner konnten im Besitz von maßgeblichen Informationen sein. Andererseits war mein Verhältnis zu meiner Großmutter eng genug, um zu wissen, dass sie mit niemandem befreundet war. Sie wechselte höchstens mit einigen wenigen mal ein paar Worte, es war also unwahrscheinlich, dass sie sich denen gegenüber über ihre Pläne ausgelassen hatte. Die Heimleiterin hatte sich von sich aus bei der Belegschaft umgehört. DasResultat war gleich null. Keiner wusste irgendetwas. Mein Vater war nach Hause gefahren, um sich um meine Mutter zu kümmern. Ich befasste mich auch mit diesem Problem, mit dem ich mich bisher noch nicht so auseinandergesetzt hatte. Es wurde von der Unauffindbarkeit meiner Großmutter überlagert, aber ich nahm mir vor, am nächsten Tag bei meiner Mutter vorbeizuschauen. Einer meiner beiden Onkel stand mir bei meinen Recherchen beiseite; als er erfahren hatte, dass meine Großmutter verschollen war, hatte er sich ein paar Tage freigenommen. Seltsam, wie Dramen Familien zusammenführen. Wir sahen uns eigentlich nie, hatten uns auch nichts zu sagen, und doch schienen wir uns in diesem Augenblick unglaublich nahezustehen. Das Unheil schweißte uns zusammen, das hatte nichts mit einem geistigen Band oder einer gemeinsamen Vergangenheit zu tun; das hatte offenbar mit Blutsverwandtschaft zu tun.
Wir schritten die Gänge entlang, und ich spürte, wie sehr er es sich selbst verübelte, seine Mutter in letzter Zeit so selten besucht zu haben. Er rief sich das Meeresfrüchteessen an ihrem Geburtstag in Erinnerung, wie eilig er es gehabt hatte, zu seinen Geschäften zurückzukehren, und nun, im Angesicht der Leere, die sie hinterlassen hatte, hätte er alles dafür gegeben,
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