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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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warum das Gedächtnis einen Moment einem anderen vorzieht. Die Auswahl ist irrational, in der Tat: Ich erinnere mich an die Farbe meines Kinderwagens, das Gesicht eines Kindermädchens, an das Attentat auf John Lennon; doch ich habe kein Bild von dem Kindergarten, in den ich drei Jahre gegangen bin, den Spanienreisen mit meinen Eltern, dem Hund, der mir so ans Herz gewachsen war und dessen Tod mich dem Vernehmen nach tief erschüttert hatte. Es gibt Farben, Stimmen, Momente, die in der vernebelten Landschaft unseres Gedächtnisses herausstechen. Mithilfe dieser Bilder lässt sich in die unerforschte Höhle unserer Kindheit vordringen. So weit meine Gedanken an jenem Morgen. Bestimmt hatte ich nachgedacht, um mich in der Illusion zu wiegen, dass es jemandem gelungen war, die Zeit außer Kraft zu setzen. Um so lange wie möglich an den Ufern dieses Tages, den es anzugehen galt, zu verweilen. Um an den Strand des Bewusstseins gespült zu werden.
     
    Ich hatte vor, meine Mutter zu besuchen, aber vorher wollte ich noch auf gut Glück einen Abstecher ins Altenheim machen. Ich wusste indes, wenn die Heimleiterin sich nicht bei meinem Vater gemeldet hatte, dann bedeutete dies, dass esnichts Neues gab. Wir waren an einem toten Punkt angelangt. Und diesen toten Punkt konnte ich gleich bei meiner Ankunft in ihrem Gesicht erkennen. Sie eröffnete mir, sie habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, die ganze Geschichte gehe ihr
gehörig
gegen den Strich. Sie habe mit Kollegen von anderen geriatrischen Einrichtungen gesprochen, die ihr alle von ähnlichen Fällen erzählt hätten. Doch bei denen war es stets um senile Menschen gegangen oder zumindest um solche, die nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren. Fälle wie der meiner Großmutter seien selten. Sie bot mir einen Kaffee an oder einen Tee oder das, wonach mir war, aber ich zog es vor zu verschwinden. Ich vermochte nicht recht einzuschätzen, wie ehrlich sie mir gegenüber war. Allerdings fragte ich mich schon, ob sie nicht ein bisschen viel Wind machte, um ihre Ruhe vor mir zu haben. Aber irgendetwas an dieser blöden Ziege – jetzt, wo ich noch einmal darüber nachdenke, kann ich es ja hinschreiben, das ist eine richtig blöde Ziege – war mir auf den Geist gegangen, und zwar ihre Art, mein Leid beiseitezuwischen. Ich stand wie ein verschüchtertes Häufchen Elend vor ihr, und sie brachte mich mit der Nummer, die sie abzog, in eine noch unangenehmere Position. Als wäre es an mir gewesen, beruhigend auf sie einzuwirken und ihr zuzureden, alles würde wieder gut werden. Sie hatte nicht das Recht, mir so zu begegnen. Sie mochte sich zum Teufel scheren mit ihrem Kaffee oder Tee, ich wollte einfach, dass sie meine Großmutter fand.
     
    Ich machte mich also schnell davon, ohne zu ahnen, dass ich nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen sollte. Ich ging die angrenzenden Straßen ab, geleitet von der gleichen Ungewissheit wie tags zuvor. Wo sollte ich hin? In dem Moment, in dem ich mir dachte, dass dabei doch sowieso nichts herauskommen würde, passierte etwas. Das ist oft so, oder? Ich ging an dem Friseursalon vorbei, den meine Großmutter häufig frequentierte. Warum war ich darauf nicht eher gekommen? Die Friseuse musste gut über meine Großmutter Bescheid wissen. Friseusen flößen Vertrauen ein, das ist bekannt. Nun ja, ich rede von Friseusen, aber das gilt für alle kosmetischen Berufe. Für alle Berufe, die Situationen mit sich führen, in denen die Kundschaft dasitzt oder -liegt und nichts tut. Da löst sich die Zunge spielend. Der Salon war winzig und zehrte hauptsächlich vom grauen Haar des Altenheims. Die Chefin hieß sicherlich Marilyn, mein Gedächtnis versagt, sagen wir, sie hieß Marilyn. Sie saß auf einem Sofa und las in einer Zeitschrift. Als sie mich sah, rief sie aus:
    «Oh, là, là, was für eine wilde Mähne!»
    «Hm … also, ich bin gar nicht wegen meiner Haare hier, sondern wegen meiner Großmutter.»
    «Schade, das hätte sich nämlich mal gelohnt.»
    Ich betrachtete mich einen Moment im Spiegel. Ich hatte mir am Morgen nicht die Mühe gemacht, mich zu kämmen. Meine Haare waren ohnehin ein Volk, das das Selbstbestimmungsrecht genoss.
    «Wo ist Ihre Großmutter denn?», wollte Marilyn wissen.
    «Das weiß ich ja eben nicht.»
    «Aber Sie wollen, dass ich ihr die Haare schneide? Wo Sie gar nicht wissen, wo sie ist?»
    «Nein … Entschuldigen Sie, ich drücke mich vielleicht nicht sehr deutlich aus … meine Großmutter ist spurlos

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