Souvenirs
möglich zu erinnern.»
«…»
«Kopf hoch», fügte er erstaunlicherweise hinzu. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Sein Kollege wirkte etwas sympathischer, doch es war ihm durchaus anzumerken, dass er die Einzelheiten nur zu Protokoll nahm, um uns eine Freude zu machen. Um so zu tun, als täte er etwas.
«Was haben Sie vor, was werden Sie unternehmen?», fragte mein Vater.
«Nicht viel. Ich werde die Vermisstenanzeige an die Dienststellen im Umkreis weiterleiten, für den Fall der Fälle. Also ich meine … das kann schon nützlich sein.»
«Können Sie nicht eine Streife losschicken? Leute befragen?»
«Stellen Sie sich vor, wir würden das bei allen Leuten machen, die gerade nicht sagen wollen, wo sie sind.»
«Aber das hier ist doch was vollkommen anderes … sie ist furchtbar alt …»
«Ich weiß, Monsieur, aber ich kann nicht einfach so Ermittlungen einleiten …»
«Warum denn nicht? Muss ich Ihnen erst die Leiche meiner Mutter bringen, damit Sie Ihre Ermittlungen aufnehmen? Ist es so?»
Beamter Nummer zwei komplimentierte uns hinaus. Draußen vor dem Revier beschlich uns beide das Gefühl, eine Stunde kostbarer Zeit verschwendet zu haben. Das Handy meines Vaters läutete. Es war die Heimleiterin:
«Ich wollte Ihnen bloß sagen, dass der Tee Ihrer Mutter immer noch auf ihrem Nachtkästchen steht. Sie hat ihn überhaupt nicht angerührt.»
«Ja, und?»
«Das heißt, dass sie die Einrichtung wahrscheinlich gestern vor sechzehn Uhr verlassen hat. Bevor die Zwischenmahlzeit serviert wird … Genau, das wollte ich Ihnen nur mitteilen …»
«Aha … danke …»
«Ich werde eine Personalversammlung einberufen, vielleicht kann ich ja noch mehr Informationen sammeln.»
«Schon recht, von mir aus», murmelte mein Vater und legte auf.
Wir überlegten, ob wir uns aufteilen sollten, um unser Suchfeld zu erweitern wie bei einer Treibjagd, doch am Ende zogen wir lieber gemeinsam los und fragten uns, mit welcher Straße wir am besten begannen.
∗ Man spricht ständig von dem Trott, in dem die Fahrgäste der Métro sich bewegen, während in Sachen Trott doch nichts und niemand mit der Métro selbst mithalten kann.
26
Erinnerungen eines Beamten an vorderster Front
Viele Menschen bezeichnen die Geburt ihrer Kinder als die schönste Erinnerung, die sie haben. Dies trifft auch auf diesen jungen Polizeibeamten zu, der schon sehr früh, mit neunzehn, Papa wurde. Er hatte im Anschluss an einen Abend in einer Disco mit einem Mädchen geschlafen. Danach hatten sie immer ein bisschen betreten dreingeschaut, wenn sie sich über den Weg liefen, und nur noch wenige Worte gewechselt. Aber drei Monate nach dem Abend in der Disco verkündete sie ihm: «Ich bin schwanger.» Er glaubte, seine Welt würde auseinanderbrechen. Doch er beschloss, sich der Herausforderung zu stellen, und so begann das Paar für eine Nacht ein gemeinsames Leben. Nach der Entbindung nahm er seine Tochter auf den Arm, und ohne dass er hätte sagen können, warum, fing er an zu weinen. Er hatte keine Ahnung,was diese Tränen ins Rollen gebracht hatte, die Aufregung der vergangenen Monate, die Angst vor der Zukunft oder das strahlende Gesicht seines Kindes. Verstört (denn er dachte, Männer weinen nicht) reichte er das Kind wieder der Hebamme und verschwand auf die Toilette. Er betrachtete sich im Spiegel und sagte leise: «Okay, die nächsten zehn Jahre werde ich nicht weinen.
»
Er bezog sich auf einen Satz, den ihm sein Großvater eingeschärft hatte: «Männer weinen nur alle zehn Jahre.»
27
Ich stellte mir vor, dass sie einfach abgehauen war. Ja, abgehauen wie ein Teenager. Es gab viele Faktoren, die verwirrend waren. Ihr Bett war gemacht, das Zimmer ordentlich aufgeräumt, und offensichtlich hatte sie ein schönes Kleid angezogen. In der Umgebung des Altenheims hatte niemand etwas davon gehört, dass jemand überfallen worden wäre. Natürlich waren das keine ausschlaggebenden Aspekte, vielleicht war es eher ein intuitiver Gedanke, aber es machte immer mehr den Eindruck, als hätte sie sich aus freien Stücken abgesetzt. Möglicherweise versuchten wir so, uns gegenseitig zu beruhigen, wer vermochte das zu sagen. Mein Vater hielt indes nicht viel von dieser Theorie; er meinte, sie hätte nicht genug Geld gehabt, um sich einfach so aus dem Staub zu machen. Seitens der Polizei gab es keinerlei konkrete Hinweise. Endlos scheinende Tage und Stunden begannen.
Die Regler der sinnlosen Unternehmungen hatten sich verschoben: Unseren
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