Souvenirs
da verbot es sich, die Wahrheit schemenhaft zu beschreiben oder ihr auszuweichen. Was mit meiner Mutter los war, sollte ich bald erfahren. Ich hatte es nicht gerade kommen sehen. Letztlich beklagte ich die Gefühlsarmut anderer, aber ich musste mich allmählich fragen, ob ich trotz der Betroffenheitsmiene, die ich an den Taglegte, nicht selbst zum Alleingang durchs Leben neigte. Für meine Einsamkeit, die ich notorisch betrauerte, war allein ich verantwortlich. Ich bin Teil meiner Epoche, in der keine Idee eine solche Kraft besitzt, dass sie den einen mit dem anderen verbinden könnte. Krieg, Politik, Freiheit, selbst die Liebe ist zu einem kläglichen, um nicht zu sagen belanglosen Gefecht verkommen. Wir sind reich an Leere. Und all das ist so bequem, so schön wie eine langsame Einschläferung. Mein Unbehagen ist ohne Säuregehalt. Es lebt aus einem leichten Koffer. Ich erfuhr vom Leiden meiner Mutter, und es erschien mir irgendwie logisch; ich hatte es nicht kommen sehen, ich stand schließlich auf dem Fußabtreter der Wirklichkeit.
Der Wirklichkeit, mit der ich mich jetzt wieder befassen musste, auf dem Polizeirevier. Die Gesichter mancher Beamten haben etwas Faszinierendes; sie scheinen sich über nichts mehr zu wundern. Sie sind mit allen erdenklichen Absonderlichkeiten, mit den ausgefallensten Übeltaten konfrontiert, sodass kein Auswuchs menschlicher Verhaltensweisen übrig bleibt, der noch die geringste Überraschung aus ihnen herauszukitzeln vermag. Wir hätten vermelden können, meine Großmutter habe einen Ausflug zum Mond unternommen, um dort Moussaka mit Ziegenkäse zu machen, die Reaktion des Polizisten wäre die gleiche geblieben. Ich glaube, die Aufgabe der Beamten, die die vorderste Front einer Dienststelle bilden, besteht eigentlich darin, die Kläger abzuwimmeln. Wie ein Türsteher entscheidet, wer in die Disco darf, entscheiden sie, wer Anzeige erstatten darf.
«Ist Ihre Mutter volljährig?», wollte er von meinem Vater wissen, und mir war nicht recht klar, ob er uns verarschen wollte oder ob die Bürokratie seinen Verstand eliminiert hatte.
«Hä?»
«Ich frage Sie, ob Ihre Mutter volljährig ist.»
«Aber … wir reden von meiner Mutter … wie kommen Sie darauf, dass sie nicht volljährig sein könnte?»
«Ich bin derjenige, der hier die Fragen stellt.»
«Wollen Sie sich über mich lustig machen?»
«Hören Sie, Monsieur, reden Sie nicht in diesem Ton mit mir, sonst rufe ich meinen Kollegen. Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt, und wenn Sie mir nicht antworten wollen, dann können Sie auch gern wieder gehen.»
«Okay … okay … ja, meine Mutter ist volljährig.»
«In dem Fall können wir leider nichts für Sie tun.»
«Aber sie ist fast neunzig! Sie ist bestimmt in Gefahr. Sie braucht Hilfe. Man muss was unternehmen. Keine Ahnung. Eine Suchmeldung durchgeben oder so.»
«Das geht nicht. Sie sagten, sie ist volljährig. Bei volljährigen Personen geben wir keine Suchmeldungen durch.»
«Verdammt noch mal! In dem Alter … kann man doch nicht sagen, dass sie volljährig ist!»
«Bitte beruhigen Sie sich, Monsieur.»
Ich flüsterte meinem Vater ins Ohr, er solle sich besser nicht aufregen. Wir hatten es offenbar mit einem Holzkopf zu tun, der es darauf abgesehen hatte, uns den Rest zu geben. Entschlussunfähig standen wir da, guckten dumm aus derWäsche. Nach einer Weile fragte der Flic, ob wir noch etwas bräuchten. Wir sagten nichts. Ich dachte, er würde uns bestimmt gleich zum Gehen auffordern, als über die Wange meines Vaters eine Träne lief. Er weinte wohl mehr aus ohnmächtiger Wut denn aus Trauer. Aus Wut, die sich hauptsächlich gegen ihn selbst richtete. Bald würden seine Brüder da sein, die ihm die Last der Entscheidungen, der in die Wege zu leitenden Maßnahmen und vor allem die enorme Last der Schuld ein bisschen abnehmen konnten. Denn er merkte nun, da er der Fleisch gewordenen menschlichen Abstumpfung gegenüberstand, dass all das sich vorher abgezeichnet hatte; dass der Ausbruch meiner Großmutter aus dem Heim, denn nur um einen solchen konnte es sich handeln, sich angekündigt hatte. Der Countdown dieses schmierigen Dramas, das nun im Gange war, hatte an dem Tag begonnen, an dem meine Großmutter ins Altenheim gekommen war.
In Anbetracht eines verstörten Vaters und eines reglosen Sohns sagte der Polizist schließlich:
«Ich rufe meinen Kollegen. Er wird Ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Versuchen Sie, sich an so viele Einzelheiten wie
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