Souvenirs
die Zeit, die er versäumt hatte, da er sich seines Glückes nicht bewusst gewesen war, zurückdrehen zu können. Würde sie jetzt sterben, müsste er sich schreckliche Vorwürfe machen. Er hätte so gern noch einmal über den Meeresfrüchten gesessen. Zu spät, stand in sein Gesicht geschrieben. Er wirkte peinlich berührt, und das äußerte sichin einer etwas ungestümen Art, Selbstsicherheit zu demonstrieren und Entscheidungen zu treffen. Dabei gab es keinerlei Entscheidung zu treffen. Was unsere Möglichkeiten anging, die Wirklichkeit konkret zu beeinflussen, machten wir uns allerhand vor, wie zwei kleine Widerstandskämpfer, die glauben, die Armee, von der sie umzingelt sind, über den Haufen rennen zu können. Eine groteske Leere erfüllte uns. Wir spazierten herum, stellten hie und da ein paar Fragen, forschten in den hintersten Winkeln ihres Zimmers nach Indizien, aber all das war so, wie sich einem kalten Wind entgegenzustemmen. Dennoch erlebten wir einen magischen Moment. Als wir uns beide vor dem Bild der Kuh wiederfanden. Ich erklärte meinem Onkel, dass meine Großmutter und ich oft hierhergekommen waren. Er musterte mich einen Augenblick wortlos und fing dann plötzlich an, schallend zu lachen. Eine Minute zuvor hatten ihn noch Schuldgefühle zernagt, und nun fegte die Kuh, die monumentale Kuh, in einem Orkan der Lächerlichkeit alles hinweg.
Ich blieb noch ein bisschen länger als er. Die Hausbewohner schauten mich freundlich an, manche kamen zu mir her, um mir Mut zuzusprechen. In diesen zärtlichen Sympathiebekundungen lag viel Schönheit. Eine Frau ging auf mich zu und eröffnete mir:
«Ich kannte sie nicht, aber ich wusste, dass sie eines Tages abhauen würde …»
«Ah, echt? Wieso?»
«Es sah nie so aus, als hätte sie sich in ihr Schicksal ergeben …»
Mir fiel keine Antwort ein. Ich machte ein paar Schritte neben dieser Frau her, bis sich eine andere zu uns gesellte, neben der ich ebenfalls herging, es war ein merkwürdiger Walzer, den wir tanzten, ich verlor mich im Labyrinth eines aus der Zeit gefallenen Königreichs, durch das ich alte Frauen am Arm führte. Ich war nahezu ohne Gedanken, als ich Zeuge einer eigentümlichen Szene wurde. Da, am Ende eines mir unbekannten Ganges, war ein Türspalt, der meine Blicke auf sich zog. Ich beobachtete wie ein Voyeur, wie zwei alte Menschen Zärtlichkeiten austauschten. Mir war, als würde ich ein Liebespaar bei einem heimlichen Rendezvous ertappen. Der Mann und die Frau strichen sich sanft über den ganzen Körper. Ich konnte nicht hören, was sie sprachen, aber ich erriet leicht die liebevollen Worte, die sie wechselten, mir schien sogar, als würde ich auch ein paar recht ungeschminkte Brocken aufschnappen. Ich hatte mich schon oft gefragt, wie es im Alter mit der Sexualität aussieht. Und letztlich muss die Frage jeder für sich selbst beantworten: Versiegt das Verlangen irgendwann? Werde ich eines Tages für die Liebe nicht mehr empfänglich sein? Ich hatte mich bei meiner Großmutter erkundigt, ob es im Altenheim Liebschaften gebe. Verdutzt und auch ein bisschen hocherfreut hatte ich vernommen, dass die Sehnsucht nach Zärtlichkeit quasi niemals aufhört. Sie hatte mir berichtet, welche Gerüchte bezüglich mancher Heimbewohner kursierten, was für Eifersuchtsszenen es manchmal gab. Das Liebespaar stand immer noch da, ich schaute die beiden an. Mittlerweile streichelten sie sich nicht mehr, sondern hielten sich in einer Zeit, die mir plötzlich stillzustehen schien, aneinanderfest. In dieser Stellung bildeten sie eine Art Bollwerk gegen den Tod.
Von diesem Zeitpunkt an war mein Liebesleben vom Gedanken an das Alter durchdrungen. Ich glaubte, ich müsse unerhörte Dinge erleben und dabei obendrein die Grenzen der Moral sprengen. Ich spürte ständig ein heftiges Verlangen in mir. Stellte mir die Sinnlichkeit als das Lebenselixier schlechthin vor. Ich denke, wer vor seinem inneren Auge immer das drohende Alter sieht, liebt anders. Ich rede nicht von der Angst vor dem Tod und der mit unserer Vergänglichkeit zusammenhängenden sexuellen Gefräßigkeit; nein, ich rede von dem vielleicht naiv klingenden Plan, im Kopf einen Schönheitsvorrat anzulegen, für den Fall, dass man sich eines Tages nicht mehr rühren kann. Ich begeisterte mich immer mehr für Frauen, war fasziniert von den kleinsten Details, besessen von der Welt der Sinne. Ich wollte, dass sie sich mir hingaben, ohne viele Fragen zu stellen, mich wie Räuberinnen meines
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