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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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neuen Faktoren, mein Erscheinen diente lediglich als Ausgleich für ihre Unfähigkeit, irgendwelche Schritte einzuleiten. Ihr war nicht wohl in ihrer Haut; ihre Lippen zitterten so sehr, dass manche Wörter in ihrem Mund ins Stolpern kamen. Diese Frau, die sich ihrer Macht immer sicher gewesen zu sein schien, löste sich vor meinen Augen auf. Wahrscheinlich hatte sie eine Heidenangst, das Verschwinden meiner Großmutterkönne sich zu einem Skandal entwickeln und den Ruf ihrer Einrichtung zerstören. Der Selbstmord, den ich am Rande mitbekommen hatte, hatte sie nicht so hart getroffen, aus dem einfachen Grund, weil es nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fiel, wenn jemand aus dem Fenster sprang. Man konnte letzten Endes niemanden davon abhalten, sich umzubringen. Doch bei meiner Großmutter lag der Fehler möglicherweise am System. Vor allem, wenn man bedachte, wie viel Zeit vergangen war, bis ihr Fehlen überhaupt bemerkt wurde:
    «Beim Mittagessen gestern war sie noch da. Ja, das ist gesichert. Aber heute Morgen dann … als wir ihr das Frühstück aufs Zimmer bringen wollten … da ist es uns aufgefallen …»
    «Und gestern Abend?», fragte ich.
    «Gestern Abend … ist sie wohl nicht bei Tisch erschienen.»
    «Und was haben Sie da gemacht? Da wird doch jemand mal nachgesehen haben, oder?», regte mein Vater sich auf einmal auf.
    «Das kommt schon mal vor, dass die Bewohner kein Abendessen wollen. Oder früh schlafen gehen …»
    «Und Sie sehen gar nicht nach? Wenn sie nicht zum Essen kommen, gibt es niemanden, der mal nachsieht?»
    «Doch … normalerweise schon … aber eine unserer Angestellten war gestern nicht da … sie war krank … normalerweise geht sie …»
    «Es hat also niemand nachgesehen! Sind Sie sich eigentlich Ihrer Verantwortung bewusst? Wenn wir das schongestern Abend gewusst hätten, wäre die Lage jetzt eine vollkommen andere. Sie kann schließlich irgendwo hingefallen sein … und die Nacht im Freien verbracht haben!»
    «Das ist mir schon klar … allerdings … wenn ihr etwas zugestoßen wäre … dann wüssten wir Bescheid … davon hätten wir gehört …»
    «Wovon gehört?!»
    «Hören Sie, Monsieur, es tut mir sehr leid. Wir tun alles, um die Angelegenheit wieder ins Reine zu bringen … aber bitte bewahren Sie Ruhe.»
    «Sie wissen ja nicht mal, um welche Uhrzeit sie verschwunden ist!»
    «Das ist doch kein Gefängnis hier! Wir führen doch nicht Buch darüber, wann die Bewohner ein und aus gehen!»
    Am Ende war die Heimleiterin doch noch aggressiv geworden. Die übliche Verteidigungsstrategie derer, die im Unrecht sind. Ich fasste meinen Vater am Arm und versuchte, beruhigend auf ihn einzuwirken. Sein Wutanfall hatte mich überrascht, aber auch erleichtert. Ich hatte mir gewünscht, er würde die Sache in die Hand nehmen. Mir war elend zumute, hundeelend, mir blieb die Luft weg bei der Vorstellung, nicht zu wissen, wo meine Großmutter war. Man konnte sich die grausigsten Szenarien ausmalen. Doch es führte im Augenblick zu nichts, die Schuld bei dieser unvermögenden Heimleiterin zu suchen, wir machten uns lieber auf. Vielleicht würden wir draußen jemandem begegnen, der uns irgendwie weiterhelfen konnte.
    Nach einigen Minuten meinte ich zu meinem Vater: «Wir müssen zur Polizei.» Unbewusst hatten wir diesen Gedanken wohl verdrängt, der naturgemäß eine Verbindung zu einem Verbrechen oder jedenfalls zu etwas wirklich Schlimmen herstellte. Wir marschierten aufs nächstgelegene Polizeirevier. Als wir dort waren, kam es uns so vor, als würden wir gerade einen recht abwegigen Vorstoß unternehmen. Da standen wir, Vater und Sohn, und hofften, die französische Polizei möge uns eine geliebte Person wiederbringen. Eine spurlos verschwundene alte Frau. Ich wollte mich schon an einen der herumstehenden Beamten wenden, als ich mich noch geschwind bei meinem Vater erkundigte:
    «Was ist eigentlich mit Mama? Warum ist sie nicht mitgekommen?»
    «… Deiner Mutter … geht’s gerade nicht so gut.»
    Ich sagte darauf nichts. Seine Aussage machte mich perplex. Wie gesagt, mein Vater äußerte sich nie so direkt. Es sollte sich herausstellen, dass er mir den Zustand meiner Mutter seit Wochen verheimlichte, weil er mich irgendwie schützen wollte. Es sollte sich herausstellen, dass er zu einer Liebenswürdigkeit fähig war, die mich rührte. Doch in der augenblicklichen Lage wäre es fehl am Platz gewesen, die Dinge zu beschönigen. Die schonungslose Wirklichkeit stürzte auf uns ein, und

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