Souvenirs
Mundes küssten, die Fremden blieben, die mir so vertraut waren. Es war kein Zufall, dass mir all diese Gedanken jetzt kamen. Es war wie bei dieser Beerdigung, bei der ich den Blick nicht von der jungen Frau hatte abwenden können. Es besteht immer eine zarte Verbindung zwischen einer Tragödie und einer Art Erotikkomödie. Ich ließ die Frauen weiter nicht aus den Augen, und meine Großmutter tauchte nicht wieder auf. Ich behielt die Frauen im Auge und dachte an den züchtigen Lebensabend, auf den ich zuging. Auch ich würde sicher zu denjenigen gehören, die daliegen und davon träumen, gestreichelt undliebkost zu werden. Ich dachte an das Buch
Die schlafenden Schönen
von Yasunari Kawabata, in dem alte Männer in ein Freudenhaus der besonderen Art gehen, in dem sie sich beim Einschlafen an junge Mädchen schmiegen. Es geht da nicht mehr um Sex, sondern einzig darum, sich dem Tod mit dem Geschmack des Paradieses im Mund zu nähern. Sich ihm in Begleitung von Frauen zu nähern, die ihren Duft und ihren unverbrauchten Atem hergeben und den Männern das höchste Glück schenken, in einer weiblichen Haarpracht zu schwelgen. Um mich herum waltete der Tod, und ich hatte nur einen Gedanken: den, durch die Sinne zu sterben.
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Erinnerungen von Yasunari Kawabata
Der große japanische Schriftsteller, Nobelpreis für Literatur 1968, besaß einen ausgeprägteren Sinn für das Schöne als jeder andere. Unentwegt war er auf der Suche nach sinnlichen Erlebnissen. Sie boten ihm stets Zuflucht in einem Leben, das tragisch begonnen hatte. Als er zwei Jahre alt war, starb sein Vater an Tuberkulose. Und im Jahr darauf ereilte seine Mutter das gleiche Schicksal. Der dreijährige Waisenknabe wurde daraufhin von seiner Schwester getrennt, die er nie mehr wiedersehen sollte, denn auch sie starb sehr jung. Kawabata wurde von seinen Großeltern aufgenommen, doch das Massaker nahm kein Ende: Ziemlichbald tat auch seine Großmutter ihren letzten Atemzug. So sind Kawabatas früheste Kindheitserinnerungen die an das zurückgezogene Dasein, das er mit seinem Großvater führte. Acht Jahre lebten beide zu zweit. Als er so alt war, dass er das Ausmaß der Familientragödie ermessen konnte, sagte sein Großvater zu ihm: «Der Tod ist über uns gekommen, und dadurch sind wir verpflichtet zu lieben.
»
45 Jahre später sollte er sich an diesen Satz erinnern, als eine dänische Journalistin ihn zur obsessiven Darstellung des Todes in seinem Werk befragte. Er antwortete ihr: «Der Tod verpflichtet zur Liebe.»
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Seit zwei Tagen hatte ich nicht mehr geschlafen. Das zehrte selbstverständlich an meinen körperlichen Kräften. Ich nahm das Leben durch ein Kaleidoskop mit vielen bunten Pünktchen wahr, fühlte mich ein bisschen wie in einem Traum oder so, als würde ich gerade mit Schmerzen aus einem erwachen. Die Formen um mich herum verschwammen in einer ungelenk schwammigen Wirklichkeit, in der ich immerzu nach etwas greifen wollte, das gar nicht vorhanden war. Ich hatte schwindelartige Zustände, wagte es aber nicht, etwas zu sagen. Mein Chef, der mittlerweile jeden Abend bei mir vorbeischaute, hielt fest, dass ich blass aussah. Kaum hatte ich ihm die Situation geschildert, entrüstete er sich:
«Das hättest du mir auch gleich sagen können. Geh jetzt nach Hause und ruh dich aus.»
«Aber … wer macht dann meine Schicht?»
«Das braucht doch nicht dein Problem zu sein!»
Er verhielt sich immer so wohlwollend mir gegenüber. Er würde schon zurechtkommen, und wenn er die Schicht selbst übernehmen musste. «Das wird mich an meine Jugend erinnern», setzte er mit einem breiten Lächeln hinzu. Er hatte die herzensgute Eigenschaft jener Menschen, die einem einen Gefallen tun und dabei auch noch weismachen, dass ihnen das ganz gelegen käme. Seine Einstellung rührte mich. Ich ging also nach Hause und entdeckte neu, dass man nachts auch schlafen konnte.
Ich wachte wiederholt auf und fragte mich, wo ich mich befand. Es dauerte einige Sekunden, bis mein Zimmer Konturen gewann, und auf dieser visuellen Basis erfolgte dann die geflissentliche Rückkehr in die Wirklichkeit. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, ob das Glück vielleicht in diesem Moment liegt, dem des Aufwachens, in dem wir die Augen öffnen, gleichsam überrascht, wir selbst zu sein. Dieser Moment gleicht manchen Kindheitserinnerungen, jenen merkwürdigen Erinnerungsfetzen, die, ohne dass man sagen könnte warum, die Jahre überdauern.[ ∗ ] Es entzieht sich unsererKenntnis,
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