Souvenirs
Toten zurückgekehrt war, war Lazarus denständigen Fragen der Sterblichen ausgesetzt: «Na, wie ist es so, wenn man tot ist?» Er gab stets lapidar zurück: «Ich weiß nicht. Ich kann mich an meinen Tod nicht erinnern.»
37
Ich hatte mir das Auto meiner Mutter geborgt. Und rauschte nun mit vollem Tempo über die Al3 Richtung Le Havre. Es kam mir ungeheuer intensiv und romantisch vor, diese Autobahn entlangzubrettern, vielleicht wegen des Films
Ein Mann und eine Frau
von Claude Lelouch. Zwar stürmte ich keiner Schauspielerin in Schwarz-Weiß entgegen, aber ich versuchte immerhin, meine Großmutter zu finden. Die Gefühlsregler in beiden Situationen befinden sich allerdings in ganz unterschiedlichen Stellungen. Auf den ersten Kilometern hatte mich die Gewissheit getragen, auf dem rechten Weg zu sein, einer mehr als heißen Spur zu folgen, eine Gewissheit, die mit der vorüberziehenden Landschaft dahinschwand. Vielleicht hatte meine Großmutter die Karte absichtlich an der Gare Saint-Lazare eingeworfen, um uns auf eine falsche Fährte zu locken? Sie kannte meinen Vater besser als sonst irgendjemand und konnte sicher vorhersagen, wie er reagieren würde: Der Umstand, dass er im Handumdrehen die infrage kommenden Zufluchtsorte hergeleitet hatte, machte mich geradezu sprachlos. Es war zu einfach, um wahr zu sein. Man darf dem allzu Offensichtlichen nichttrauen. Aber wir hatten keine Idee, wo sie sonst sein könnte. Die Anhaltspunkte mochten vage sein, aber es waren die einzigen, die wir hatten.
Bis zu dem Zeitpunkt war mir Autofahren zuwider gewesen. Ich hatte den Führerschein gemacht, weil ich mich gefügig einer Massenbewegung anschloss. Die an den Haaren herbeigezogenen Verkehrssituationen im theoretischen Unterricht amüsierten mich halbwegs. Ich wusste gleich, dass ich nicht der Typ war, dem ein Reh begegnete. Doch auf dieser Fahrt nun gelangte ich zu einer Erkenntnis. Ich hielt an einer Autobahnraststätte, und mir ging endlich die Schönheit dieser Inseln im Nirgendwo auf. Bis dahin hatte ich Autobahnraststätten lediglich als Orte wahrgenommen, an denen man praktische Dinge verrichtete, tanken, Kaffee trinken und aufs Klo gehen. Der Zauber des Anonymen hatte sich mir nie erschlossen. Ich beschloss, mir Zeit zu lassen, allen möglichen unnützen Plunder zu kaufen, zwischen den Regalen mit Schokoriegeln und verbilligten alten Zeitungen herumzuschlendern. Die ganze unheimlich wirkende Kette von Ereignissen dieses Tages schien mir einem noch nicht näher bestimmten persönlichen Mythos anzugehören. Ich genoss das Gefühl, unterwegs zu sein, mich an dieser Raststätte aufzuhalten, selbst das Auto erschien mir plötzlich als ideales Vehikel für große Abenteuer. Zum ersten Mal verspürte ich so eine Art Reisefieber.
Le Havre rückte näher, und ich nahm die Abfahrt Richtung Étretat. Bald musste ich in eine kleine Landstraße einbiegen,die mich zu meinem Ziel führen würde, mein Weg glich einem immer schmaler werdenden Trichter. Ich wusste, das Haus, in dem meine Großmutter ihre Kindheit verbracht hatte, lag nicht direkt in der Ortschaft, sondern in einem der nahe gelegenen Dörfer. Ich kannte mich in der Gegend überhaupt nicht aus. Ein Schild wies Richtung Zentrum, und es erschien mir irgendwie logisch, dass ich dahin musste. Vom Zentrum aus würde ich meine Nachforschungen beginnen. Mitten am Tag gab es kaum ein anderes Auto, das auf dieser Strecke unterwegs war. Es war mitten unter der Woche und Mitte Oktober. Ich befand mich irgendwo am Ende der Welt, wo ich keinerlei Orientierungspunkte hatte.
Ich ging in das Fremdenverkehrsbüro, wo mir eine Frau eine Karte der Umgebung überreichte. Ich las die Ortsnamen und hielt bei Sainte-Adresse inne. Die heilige Adresse. Vielleicht auch das heilige Zartgefühl. Welch ein schöner Name, es musste bestimmt angenehm sein, da zu wohnen. Die Frau, die sich freute, endlich einen Kunden zu haben, versorgte mich auch noch mit einer Broschüre, in der die Serviceleistungen der einzelnen Hotels aufgelistet waren. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, ich musste mir tatsächlich ein Zimmer für die Nacht suchen. Ich dankte ihr überschwänglich, dann ging ich und setzte mich auf eine Bank, um das alles zu analysieren. Was in nicht mal einer Minute erledigt war. Ich stand wieder auf und blieb einen Moment von Unentschlossenheit gelähmt stehen. Wo sollte ich jetzt hin? Ich wandte meinen Kopf demFremdenverkehrsbüro zu. Mein merkwürdiges Verhalten hatte die
Weitere Kostenlose Bücher