Souvenirs
ich nicht recht kapiert, was ihn veranlasste, mir seine ganze Biographie zu offenbaren. Aber es war nur seine Art, die Zeit zu überbrücken und mich nicht allein meine Sorgen wälzen zu lassen. Wenn ich schon nicht von mir reden wollte, kein Problem, dann würde er eben über sich sprechen. Er fuhr fort mit dem Moment, in dem seine zweite Frau auftauchte. Er erklärte, er sei vollkommen baff gewesen, als er festgestellt hatte, dass er mit ihr seinem üblichen Liebesschema folgte. Abgesehen von den Kindern lief die Geschichte genauso wie mit seiner ersten Frau. Sie hatten eine schwere Krise gehabt (hätte mich auch gewundert, wenn es irgendjemandem gut gegangen wäre in jenen Tagen), aber er glaubte, sie sei jetztüberwunden. Es sei ihm vieles klar geworden in letzter Zeit. Ihm sei klar geworden, dass er hinter seiner gutmütigen Maske sein Einzelgängertum versteckte, um nicht zu sagen diesen Egoismus. Er sei unfähig, den Frauen das zu geben, was sie von ihm verlangten. Er habe eine Therapie gemacht, und sein Therapeut habe ihm die Frage gestellt: «Was glauben Sie, warum sind Sie ins Hotelgeschäft eingestiegen? Glauben Sie nicht, dass es einen unbewussten Grund dafür gibt?» Die Frage hatte ihn ins Schleudern gebracht. Er hatte sich eingestehen müssen, dass er in seinem Leben immer vor irgendetwas auf der Flucht gewesen war. Seit Kurzem hatte er das Bedürfnis, es ruhiger angehen zu lassen. Die Hotels verkaufen, das war eine Art, zu seiner Frau zu sagen: «Ich bin für dich da.»
Er versuchte an dem Abend unermüdlich, mir sein Angebot schmackhaft zu machen: «Ich brauche so jemanden wie dich. Jemanden, der mit Ernst bei der Sache ist. Ich weiß schon, du bist auch verträumt, du bist ein Schriftsteller. Man sieht dir an, dass du einen guten Roman schreiben wirst. Du kannst dir freinehmen, wenn du Zeit brauchst, um voranzukommen. Aber zum Schreiben ist auch etwas Konkretes im Leben vonnöten. Denke ich wenigstens. Man kann nicht aus dem Nichts schöpfen, ohne Orientierungspunkte, ohne feste Zeiten kommt man nicht aus. Schau dir die großen Künstler an: Sie sind alle irgendwelchen Zwängen ausgesetzt.» Wenn man ihm so zuhörte, hätte man fast den Eindruck gewinnen können, ich würde mich in James Joyce verwandeln, indem ich seinen unbefristeten Arbeitsvertrag unterschrieb.
Ich sage das so, aber ich wusste auch, wie viel Wahrheit in seiner Rede lag. Es hatte mir furchtbar gutgetan, Nachtschicht zu machen und geregelte Arbeitszeiten zu haben. Daraus war zwar keine Inspiration entsprungen, aber immerhin hatte ich das Gefühl, in meinem inneren Durcheinander Ordnung geschaffen zu haben. In dem Punkt hatte er recht. Doch dann schwenkte meine allzeit wankelmütige Meinung um. Ich fand, große Kunst entstand nur aus dem Nichts, dem Unbeständigen, der Unentschiedenheit. Ich wollte alle Brücken hinter mir abbrechen, alle Bindungen lösen, im Wahn der Ungewissheit die rechten Worte finden. Aus geregelten Arbeitszeiten erwuchsen keine großen Romane, unmöglich. Sie erwuchsen aus Ausschweifungen, der Abwesenheit von Zwängen, ja, auch der Abwesenheit von Moral. Sie erwuchsen aus Treulosigkeit. Und dann war ich imstande, mit meiner Meinung erneut umzuschwenken. Im Grunde hatte ich keine Ahnung, welcher Weg einzuschlagen war. Niemand weiß, welchen Weg er einzuschlagen hat, um dahin zu gelangen, wohin er will. Letztlich war alles sehr vernebelt. Vielleicht würde die Inspiration ja auch aus diesem Nebel aufsteigen.
Mit dem Gedanken, alle Brücken hinter mir abzubrechen, war ich auch wieder bei meiner Großmutter angelangt. Wenn ich mir die Geschichte ihrer Flucht durch den Kopf gehen ließ, überkamen mich Zweifel: Es dauerte immer ein paar Sekunden, bis mir tatsächlich klar wurde, dass die Geschichte wahr war. Ich hatte mir schon einige Male vorzustellen versucht, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Wohinwürde es mich in ihrem Alter ziehen, wenn ich Reißaus nehmen wollte? Schwer zu sagen. Ich hatte zwar immer eine enge Beziehung zu alten Menschen und zum Alter an sich gehabt, aber sich in das Alter hineinzudenken, war nicht leicht. Mit sechzehn war ich am Herzen operiert worden. Die Krankheit, an der ich litt, tritt sonst nur bei alten Leuten auf, und ich habe noch sehr gut die Worte des Arztes im Ohr, der zu mir sagte: «Sie müssen schon sehr alt sein.» Ich denke viel über meine Altersschwäche nach, der ich eine Art chronische Müdigkeit verdanke.[ ∗ ] Doch diese Operation hat vor allem eine
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