Souvenirs
Sensibilität in mir geweckt, durch die sich mir verborgene sinnliche Welten eröffnen. Und wenn ich hier sitze und schreibe, dann nur, weil mein Herz aus seiner Altersschiene ausbrach. Doch bei aller Vertrautheit mit dem Alter und meiner Großmutter konnte ich mich weder in das eine noch in die andere hineinversetzen. Ich hatte keine Ahnung, wo sie sein konnte. Ich teilte meine Gedanken mit Gérard, und es war so schön, was er mir antwortete: «An ihrer Stelle würde ich mich in eine Erinnerung flüchten. Ja, das würde ich in dem Alter wohl tun.» Seine Worte gingen mir sehr nahe. Und er hatte wahrscheinlich recht. Das Abtauchen meiner Großmutter musste mit dem Bedürfnis in Zusammenhang stehen, etwas Schönes zu sehen.
∗ Ich verzichte darauf, beiläufig auf die Vergreisung meiner beiden großen Leidenschaften zu sprechen zu kommen: Suppen und die Schweiz.
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Gérards Erinnerungen
Er war nach Hause gekommen, ein bisschen später als sonst, hatte, ohne auch nur einen Blick um sich zu werfen, das Wohnzimmer durchquert und sich dann aufs Bett gelegt. Er hatte bemerkt, dass seine Frau und seine Kinder nicht da waren, aber das war kein großer Grund zur Beunruhigung. Er dachte, sie seien bestimmt im Kino oder beim Essen, hätten ihm halt nicht Bescheid gegeben, nichts weiter. Dabei war es schon nach Mitternacht, und hätte Gérard die Lage etwas besser einzuschätzen gewusst, hätte er sofort geahnt, dass irgendetwas nicht stimmte. Es gelang ihm sogar einzuschlafen, erst mitten in der Nacht schreckte er ängstlich hoch und lief auf der Suche nach einem Familienmitglied in der Wohnung umher. Vergeblich. Dann ging er in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Durch das Fenster fiel bereits das schwache Licht des anbrechenden Tags, und er entdeckte einen Zettel auf dem Tisch. Er war noch so schlaftrunken, dass er Mühe hatte, die Nachricht auf der Stelle zu entziffern. Er brauchte eine oder zwei Sekunden, bis er endlich las: «Wir sind abgereist.
»
Er las die drei Worte mehrmals, wollte es nicht recht wahrhaben, dann fiel ihm auf, dass am unteren Rand noch ein kleines P. S. stand. Seine Frau, die bald nur noch seine Exfrau sein sollte, hatte geschrieben: «Merkst du das erst jetzt?»
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Ich hatte den Eindruck, um mich herum wurde überall das Weite gesucht. In den Zeitungen war von nichts anderem als von Flüchtlingen, Ausreißern und auf mysteriöse Weise Verschwundenen die Rede. Alles erinnerte mich an meine Großmutter, und ich fragte mich, ob das egoistisch oder in meiner Situation ganz normal war: Wenn man etwas Außergewöhnliches erfährt, ist das ganze Denken davon beherrscht. Auf einem Blatt Papier notierte ich alle Orte, an denen meine Großmutter gelebt hatte, alle Anekdoten, die mir über sie zu Ohren gekommen waren, die Namen aller Menschen, die sie möglicherweise Lust hatte wiederzusehen. Doch meine Liste durfte unter dem Strich wohl nicht mehr als zehn Prozent der Möglichkeiten abdecken. Was weiß man schon über einen Menschen? Sehr wenig. Das stellt man fest, wenn er über alle Berge ist. Es gibt diese Redensart, «ein echter Freund, das ist jemand, den man anrufen kann, wenn man mitten in der Nacht mit einer Leiche auf dem Arm dasteht». Ich weiß nicht warum, aber mir hat diese Vorstellung immer gefallen. Manche Leute verbringen ihre Zeit damit, sich zu fragen, was sie anstellen würden, wenn sie im Lotto gewännen, ich frage mich, wen ich anrufen werde, wenn ich mich einmal einer Leiche zu entledigen habe (es ist nämlich höchst unwahrscheinlich, dass ich imLotto gewinne). Ich gehe im Geiste meine Freunde durch und bin unschlüssig. Ich wäge das Für und das Wider ab, mache mir Gedanken, wer vielleicht feige sein könnte. Und dann fällt mir ein, dass die Entscheidung, vor der ich stehe, komplexer ist als gedacht: Denn einen Freund zu lieben, das bedeutet auch, ihn nicht in Sachen hineinzuziehen, die so schmutzig wie gefährlich sind. So in etwa gilt das auch für einen Vermissten. Ich denke, wenn ich ausreißen würde, dann wäre der Freund, der mir helfen würde, die Leiche loszuwerden, der einzige Mensch, der imstande sein könnte, mich wiederzufinden. Im Zuge meiner weiteren Ermittlungen versuchte ich mir vorzustellen, dass meine Großmutter jemanden umgebracht hatte. Doch schließlich musste ich mir eingestehen, dass das Kombinieren keine meiner großen Stärken war. Ich gehörte zu der Sorte, die im Labyrinth den Faden verlor. Also sollte ich vielleicht besser noch mal von vorn
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