Souvenirs
ihre Eisenwaren auf den Marktplätzen feil. Auch viele andere Kaufleute sahen sich gezwungen, ihre Läden aufzugeben. Man tat sich zusammen und organisierte fliegende Märkte. Das Dasein der Händler ähnelte ein wenig dem Bohèmeleben der Zirkusleute, mit dem Unterschied, dass mein Urgroßvater, anstatt den Clown zu spielen, Nägel verkaufte. Nach einer extrem harten Anfangszeit, in der die Familie mitunter die Armenspeisung in Anspruch nehmen musste, gelang es ihr immer besser, über die Runden zu kommen. Meine Großmutter half im elterlichenBetrieb mit und vergaß die Zeit, in der sie ein kleines Mädchen gewesen war, mehr und mehr. Einmal im Monat kaufte ihr Vater ihr ein Buch, das sie bis zum nächsten Monat wieder und wieder las. Auf ihren Streifzügen stellte sie sich oft vor, wie es wäre, wenn sie noch zur Schule ginge: Sie spielte die Lehrerin, die Hausaufgaben aufgab oder eine freche Schülerin bestrafte; sie war die Schülerin, die brav die Anweisungen einer imaginären Lehrerin befolgte. So lebte ihre Vergangenheit im Spiel fort. Mir gefällt das sehr, wie Kinder sich kraft ihrer Phantasie vor Unglück bewahren können. Später verlernt man, sich zu schützen, driftet in alle möglichen Richtungen ab.
Langsam entspannte sich die Situation. Es gab in den 1930er-Jahren auch eine Phase der wirtschaftlichen Erholung, in der erstmals in der Geschichte Frankreichs Urlaube bezahlt wurden. Man genoss die Freizeit und entdeckte verblüfft etwas Seltsames: Das Leben hatte noch etwas anderes außer Arbeit zu bieten. In der Geschichte eines Landes folgt auf eine Krise immer eine Zeit der Sorglosigkeit, und in der Sorglosigkeit entsteht dann wohl die nächste Krise. Das Glücksbild, das den Franzosen verkauft wurde, sozusagen die Geburtsstunde flächendeckenden Marketings, verhüllte das Grauen, das mit Macht heraufzog. Mein Urgroßvater arbeitete hart, aber am Sonntag spielte er Karten und rauchte Pfeife. Er konnte nicht ahnen, dass dieser Frieden nicht von langer Dauer sein würde. Bald sollte er wie ein Idiot am idiotischsten aller Grabenkriege teilnehmen. Die Maginot-Linie steht für die Sorglosigkeit der 1930er-Jahre.Und es gibt Franzosen, die sich immer noch darüber wundern, dass man eine Verteidigungslinie, die doch irgendwo aufhören muss, auch umgehen kann.
Seit Monaten hatte das kleine Mädchen nichts mehr von seinem Vater gehört. Am Abend saß es mit seiner Mutter in gespannter Erwartung der Nachrichten vorm Radio, aber es gab keine Informationen über den Verbleib der Gefangenen. Wäre er im Kampf gefallen, hätten sie davon erfahren. Mittlerweile hatte sich die Familie in Paris angesiedelt, in der Rue de Paradis. Sie erlebte Furcht und Schrecken wirklich in der Straße dieses Namens, so etwas denkt man sich nicht aus. In einer kleinen Wohnung mit einem winzigen Balkon, von dem aus man die deutschen Soldaten sehen konnte, die in immer größerer Zahl durch die französische Hauptstadt patrouillierten. Die Nachbarn und Leute, denen man begegnete, stellten erstaunt fest, dass sich eigentlich gar nichts veränderte. Die Deutschen erwiesen sich sogar als richtig höflich, waren der französischen Bevölkerung eher wohlgesinnt. Man begann zu kollaborieren, und es gab keinen Grund, ein Drama daraus zu machen. Manch einer gestand unumwunden, dass er diesem Krieg auch etwas Gutes abgewinnen konnte, eine billige Tour, all die Parasiten und anderen unliebsamen Elemente loszuwerden. O ja, das kann ich Ihnen sagen, Madame, diese Schnauzbart-Diktatur hat durchaus etwas für sich.
Obwohl die Lage anscheinend ruhig war, war es schwierig, etwas über das Schicksal der Gefangenen in Erfahrung zubringen. Das Vichy-Regime gelobte, im Verbund mit den deutschen Besatzern sehr bald ein Register mit den Namen der in Gefangenschaft geratenen französischen Soldaten herauszubringen. Doch inmitten all der Verletzten, Toten und Deserteure einen verlorenen Mann in der Menge aufzuspüren, war keine einfache Sache. Man muss sich die Langsamkeit der damaligen Verwaltungsapparate vergegenwärtigen. Als die ersten Meldungen durchsickerten, tauchte sein Name nirgendwo auf. Alle schoben die Verantwortung auf den Saustall, der herrschte. Anfang September wurde meine Urgroßmutter zu einem der niederen Dienstgrade vorgelassen. «Hören Sie, ich glaube, Ihr Mann ist verschollen.» Wie, er ist verschollen? Sie war vollkommen außer sich vor Wut. Mit so etwas durfte man ihr nicht kommen. Sie hätte es ertragen, wenn er ihr von
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