Souvenirs
anfangen.
Am späten Vormittag ging ich Einkaufen. Ich wollte mir einen Kaffee kochen und darin ein paar Biskuits eintunken. Es schien eine für diese Jahreszeit merkwürdige Sonne, alles geriet aus den Fugen, und das machte mir Hoffnung auf den kommenden Winter. Als ich wieder nach Hause kam, leerte ich im Überschwang der Routine meinen Briefkasten. Ich bekam im Allgemeinen nicht viel Post. Mein Briefkasten wies damit eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit mit meinem Liebesleben auf. Und doch fand ich inmitten der Fleischwerbeprospekte und Kleinanzeigen von Schlüsseldiensten an jenem Tag eine Postkarte. Es war der Eiffelturmdarauf zu sehen. Das war schon einmal äußerst erstaunlich. Wer wohl in Paris seine Ferien verbringen mochte? Man sieht, ich brauchte den Kaffee wirklich dringend. Denn ich realisierte nicht gleich, dass diese Karte nur von meiner Großmutter sein konnte. Ich betrachtete einen Augenblick den Eiffelturm, er kam mir so groß vor, auch auf dieser kleinen Karte. Dann drehte ich sie um und erkannte sogleich die krakelige Handschrift, die mir so vertraut war. Das erste Lebenszeichen seit fast drei Tagen. Meine Großmutter hatte geschrieben:
Mir geht’s ausgezeichnet.
Bitte mach Dir meinetwegen keine Sorgen.
Ich mache einen kleinen Ausflug.
Alles Liebe, mein Schatz,
Deine Omi
Sie hatte ihre kurze Mitteilung mit zwei Sonnen verziert. Es kam mir so vor, als sei die Karte von einem artigen Kind geschrieben. Ich rief sogleich meinen Vater an und informierte ihn. In seine Erleichterung, merkte ich, mischte sich eine Spur Enttäuschung: Wieso hatte sie nicht ihm geschrieben? Sei’s drum, das war jetzt nicht so wichtig. Wir durften uns freuen, das bestätigt zu sehen, was wir bereits geahnt hatten. Doch nachdem die gute Nachricht verarbeitet war, standen wir mit den gleichen Sorgen wie zuvor da: Wir wussten nach wie vor nicht, wo sie war. Was sie machte, war der reine Wahnsinn, ihr war anscheinend gar nicht bewusst, wie gefährlich es war, in ihrem Alter einfach so davonzulaufen.
«Wo hat sie die Karte denn eingeworfen?», wollte mein Vater wissen.
«Na ja … in Paris, denk ich mal.»
«Ja, aber wo da? Guck doch mal auf den Poststempel.»
Daran hatte ich gar nicht gedacht. Und es wunderte mich einigermaßen, dass er daran dachte. Vielleicht ergänzten wir uns besser, als ich geglaubt hatte?
«Da steht Paris, 9. Arrondissement – Postamt Saint-Lazare.»
«Na, da haben wir’s. Sie ist an der Gare Saint-Lazare in irgendeinen Zug eingestiegen.»
«…»
«Da fahren die Züge in die Normandie ab … nach Le Havre …»
«Da, wo sie herkommt», seufzte ich.
Es entstand eine Pause. Unsere Art, uns darauf zu verständigen, dass es nur eine Möglichkeit gab. Endlich erklärte mein Vater:
«Ich kann nicht fahren. Ich muss bei deiner Mutter bleiben.»
«Ja, schon klar.»
«Ich kann nicht fahren.»
«Keine Sorge. Ich werde fahren.»
Er konnte nicht weg, er brauchte es eigentlich nicht zu wiederholen. Aber bestimmt wollte er sich so noch einmal vergewissern, dass er auch die richtige Entscheidung traf. Meine Onkel hätten vielleicht auch fahren können, aber die hätten erst planen müssen. Und wir durften keine Zeit verlieren. Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, begann ich, einpaar Sachen zusammenzupacken. Wir hatten eine Spur. Es mochte hirnverbrannt sein, aber wir mussten versuchen, ihr nachzugehen. Ich rief meinen Chef an und gab ihm Bescheid, dass ich wegfuhr. Natürlich sagte er, ich solle mir so viel Zeit lassen, wie ich brauchte. Ich dachte wieder daran, wie er gesagt hatte, meine Großmutter könnte sich in eine Erinnerung geflüchtet haben, und er hatte wohl recht gehabt, ich war mir mittlerweile so gut wie sicher, dass meine Großmutter zu den Stätten ihrer Kindheit zurückgekehrt war. Die Sache nahm plötzlich Fahrt auf.
36
Erinnerungen des Heiligen Lazarus, nach dem ein Pariser Bahnhof benannt ist
Das Leben des Lazarus ist für seinen verunglückten Tod bekannt. Seine beiden Schwestern Marta und Maria vergossen zahllose Tränen, als sie Jesus begegneten. Marta sprach: «Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.» Jesus erwiderte: «Dein Bruder wird auferstehen … Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.
»
So kehrte Lazarus vier Tage nach seinem Tod ins Leben zurück. Und wurde zum Mythos. Als erster Mensch, der aus dem Reich der
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