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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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als darauf aus sind, Prozesse zu verschleppen. Im Gegenteil, man klagt darüber, dass sie nach Aufhebung der Gebühren und seit ihrer Anstellung als Staatsbeamte ihre Klienten kaum anhören und Alle, möglichst summarisch und im Ramsch abzumachen suchen. Viele, die nicht im Prozessführen eine Art von anregender Unterhaltung suchen, nehmen daher trotz der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtshilfe lieber jedes Unrecht geduldig hin, um sich Laufereien, Zeitverlust und Ärger zu ersparen.
    Erstaunlich ist es, wie die Eigentumsvergehen zunehmen, trotzdem Gold und Silber verschwunden ist. In meiner Eigenschaft als Kontrolleur gewahre ich jetzt hinter den Kulissen so Manches, was sich bisher meinen Blicken entzog. Die Zahl der Unterschlagungen hat sich gegen früher versiebenfacht. Angestellte jeder Art verabfolgen gegen irgend eine private Zuwendung oder Dienstleistung zum Nachteil des Staates Waren, oder üben den ihnen berufsmäßig obliegenden Dienst aus, ohne in dem Geldzertifikat des Empfängers in vorgeschriebener Weise einen dem Wert entsprechenden Kupon loszutrennen und zur Buchhalterei abzuführen. Durch unrichtiges Maß oder durch Verfälschung der Ware beim Verkauf sucht man das Fehlende, was nicht durch entsprechende Kupons nachgewiesen werden kann, wieder auszugleichen.

21. Die Flucht
    Schreckliche Tage haben wir erlebt Am Sonntag früh kam Franz plötzlich an auf der Durchreise nach Stettin, wohin er, wie er angab, versetzt worden sei. Meine Frau zeigte sich über die Ankunft gar nicht verwundert, desto aufgeregter war sie bei seiner Abreise. Sie schluchzte laut auf, hing an seinem Halse und konnte sich gar nicht von ihrem Sohne trennen. Auch Franz verabschiedete sich von mir, als gelte es einen Abschied auf Nimmerwiedersehen. Agnes, Franzens Braut, habe ich nicht gesehen. Beide wollten auf dem Stettiner Bahnhof zusammentreffen.
    Mittwoch las ich meiner Frau aus dem „Vorwärts“ mit gleichgültiger Stimme eine Nachricht vor, dass an der Seeküste wieder flüchtige Auswanderer von den Grenzpatrouillen niedergeschossen sind, meine Frau ruft entsetzt aus: „Wo denn? Als ich ihr antwortete: „Auf der Rede von Saßnitz“, fiel sie ohnmächtig zurück. Mit Mühe gelang es mir, sie allmählich wieder zum Bewusstsein zu bringen. In abgerissenen Worten erzählte sie mir, dass Franz und Agnes am Sonntag zusammen abgereist sind, und nicht nach Stettin, sondern nach Saßnitz auf Rügen, um von dort aus Deutschland zu verlassen. In dem Zeitungsartikel war noch näher ausgeführt, dass flüchtige Auswanderer Widerstand geleistet hätten, als das von Stettin kommende dänische Postschiff beim Anlegen in Saßnitz von der Grenzwache visitiert wurde, und die flüchtigen Auswanderer mit Gewalt aufs Land zurückgeführt werden sollten.
    Furchtbare Stunden, geteilt zwischen Kummer und Angst, brachten wir zu, bis eine neue Nummer des „Vorwärts“ die Namen der Getöteten und Verhafteten veröffentlichte und sich Franz und Agnes nicht auf dieser Liste befanden. Aber was war aus ihnen geworden?
    Meine Frau gestand mir nun ein, was alles vorhergegangen war. Franz hatte schon vor seiner Abreise nach Berlin bei der letzten Geburtstagsfeier von Mutter dieser seine feste Absicht mitgeteilt, Deutschland, dessen Zustände ihm unerträglich seien, sobald wie möglich zu verlassen. Er bat seine Mutter inständigst, mir, von dessen gesetzlichem Sinn er Widerstand befürchtete, keine Silbe darüber mitzuteilen. Vergeblich hat meine Frau ihm die Sache auszureden versucht, er blieb bei seinem Entschluss, und das Mutterherz konnte den Vorstellungen des Sohnes nicht mehr widerstehen. Aus früherer Zeit hatte sich meine Frau eine Anzahl Goldstücke erspart und auch vor mir verborgen gehalten. Dieses Geld übergab sie Franz zur Bestreitung der Überfahrtskosten auf einem ausländischen Schiff.
    Damals widerstrebte noch Agnes. Sie war bereit, wenn es sein musste, Franz bis an das Ende der Welt zu folgen, wie sie sagte, aber sie vermochte die Notwendigkeit, sich von allen anderen Lieben hier zu trennen, noch nicht einzusehen. Bald aber gestalteten sich ihre eigenen Verhältnisse, was ich alles jetzt erst erfahre, immer widerwärtiger.
    Still und sittsam hatte das junge Mädchen für sich in der elterlichen Wohnung Putzarbeiten hergestellt und an ein großes Geschäft abgeliefert. Nun aber musste Agnes in einer großen Näherei arbeiten und in einem großen gemeinschaftlichen Arbeitssaale mit Frauenspersonen von teilweise recht leichten
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