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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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Sitten tagsüber zusammen sein. Ihre keusche Jungfräulichkeit empörte sich über die Art mancher Gespräche und über die Umgangsformen gegenüber den männlichen Betriebsleitern. Klagen und Beschwerden machten die Sache nur noch schlimmer. Bei ihrer hübschen Erscheinung wurde sie bald der Gegenstand unausgesetzter Nachstellungen seitens eines der Betriebsleiter, schroffe Zurückweisungen suchte derselbe durch Schikanen aller Art im Arbeitsverhältnis zu rächen. — Ähnliches mag ja auch früher in solchen Verhältnissen vorgekommen sein. Aber damals war wenigstens eine Rettung durch einen Wechsel der Arbeitsstätte möglich. Heute aber betrachten manche Betriebsleiter die Arbeiterinnen fast wie wehrlos ihnen überlieferte Sklavinnen. Die höheren Beamten haben davon Kenntnis, aber sie selbst treiben es vielfach nicht besser in solcher Ausnutzung ihrer Machtstellung und beurteilen deshalb Klagen und Beschwerden, welche an sie gelangen, sehr nachsichtig. Da bleibt denn den Anverwandten oder Verlobten der in ihrer Ehre bedrohten jungen Mädchen kaum etwas anderes übrig, als zur Notwehr zu schreiten. Schwere Misshandlungen, Mord und Totschlag sind, wie wir in unseren Konferenzen der Kontrolleure täglich erfahren, die Folge solcher Zustände.
    Agnes, die vaterlose Waise, hat m Berlin keinen Beschützer. Die Klagebriefe der Braut brachten Franz in Leipzig zur Verzweiflung und förderten den Entschluss bei ihm zur Reife, mit der Ausführung des Fluchtplanes nicht länger zu zögern.
    Agnes wünschte dies jetzt selbst auf das dringendste. Meine Frau half in den letzten Nächten die Reisekleider beschaffen und Alles vorbereiten.
    So war der entscheidende Sonntag herangekommen, über dessen Ausgang wir so lange in qualvoller Ungewissheit blieben. Endlich, nach fast 8 Tagen, wurde derselben ein Ende gemacht Es traf ein Brief der Beiden von der englischen Küste ein. Sie hatten sich nicht auf dem dänischen Postschiff befunden. Der Fischer, bei dem die Beiden in Saßnitz eine Unterkunst gefunden, war ein entfernter Verwandter meiner Frau. Die dortige Strandbevölkerung ist gegen die neue Ordnung überaus feindselig gestimmt, weil dieselbe ihnen den bisherigen reichen und bequemen Verdienst von den Badegästen geraubt hat. Denn die sozialisierte Gesellschaft gestattet Badereisen nur solchen, welchen sie nach Prüfung durch eine ärztliche Kommission ausdrücklich verordnet ist.
    Unser umsichtiger Fischer widersetzte sich dem Vorhaben des Paares, eines der Postschiffe, auf welche in letzter Zeit besonders scharf vigilirt wird, zur Flucht zu benutzen. Der Fischer fuhr die Beiden zu der Zeit, als gerade die Aufmerksamkeit der Grenzwache dem Postschiff zugewendet war, auf seinem Fischerkahn bis auf die Höhe von Stubbenkammer in die See hinaus und brachte sie dort glücklich an Bord eines vorüberfahrenden von Stettin zurückkehrenden englischen Frachtdampfers. Die Engländer, deren Handel durch die neue Ordnung in Deutschland sehr benachteiligt wird, sind stets gern dabei, der sozialdemokratischen Regierung durch Aufnahme flüchtiger Auswanderer ein Schnippchen zu schlagen. So sind denn Agnes und Franz nach kurzer Überfahrt glücklich nach England gelangt und befinden sich heute bereits auf der Überfahrt nach New York.
    Die armen Kinder! Was haben sie ausgestanden! Und erst meine gute Frau, welche alle ihre Sorgen und Gedanken so lange vor mir in ihrer Brust verschlossen hat! Was kann ich im Leben noch tun, um ihr in Liebe alle diese mütterliche Aufopferung zu vergelten!

22. Wiederum Kanzlerwechsel
    Die Missstimmung aus dem Lande hat ihren Höhepunkt erreicht durch die Nachricht von den Musikausführungen auf den öffentlichen Plätzen Berlins und von den unentgeltlichen Theaterausführungen hierselbst. Zu allen kleinen Nestern verlangt man unter Berufung auf die soziale Gleichheit und die gleiche Entschädigungspflicht für gleiche Arbeit dieselben Volksbelustigungen aus dem allgemeinen Volkssäckel hergestellt zu sehen. Ohnehin müssten schon die Dorfbewohner der Gasbeleuchtung, der elektrischen Lampen und der Luftheizung entbehren.
    Der „Vorwärts“ suchte durch anmutige Schilderungen über die Vorzüge des Landlebens, idyllische Betrachtungen über den Naturgenus und die frische Luft zu beruhigen. Das wurde für Ironie genommen. Wo bleibt denn bei Regenwetter und an langen Winterabenden der Naturgenuss? Wo in den engen Wohnungen und in den Ställen auf dem Lande die frische Luft? So murrte man in Eingesandts. —
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